DEUTSCHE KINEMATHEK MUSEUM FÜR FILM UND FERNSEHEN
Über das Projekt

Collage

„Berliner Schule“ an der dffb 1984-95. Teil 1: Die Akademie

von Michael Baute

Seit Mitte der 1990er Jahre waren auf Festivals deutsche Filme zu sehen, die der nationalen und internationalen Filmkritik bald als Beispiele einer neuen Stilrichtung galten: der „Berliner Schule“ (oder auch „La Nouvelle Vague allemande“). Diese Begriffe umschreiben ein zeitgenössisches, jenseits des Mainstreams und seiner standardisierten Dramaturgien entstandenes Erzählkino, das erstmals seit dem Niedergang des „Neuen Deutschen Films“ Anschluss an ästhetische Entwicklungen des „Weltkinos“ herzustellen versuchte.

Drei Regisseure dieses „Stils“ hatten zuvor nahezu zeitgleich an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) studiert. Ihre Filme – darunter DIE INNERE SICHERHEIT (DE 2000) von Christian Petzold, DER SCHÖNE TAG (DE 2001) von Thomas Arslan und MEIN LANGSAMES LEBEN (DE 2001) von Angela Schanelec – wurden bald zum Kern der „Berliner Schule“ gezählt.

Bald erweiterte sich dieser von der Kritik hergestellte Zusammenhang um Filme von Regisseuren, die nicht an der dffb studiert haben: Zur „Berliner Schule“ gerechnet werden heute auch Filme von Regisseuren wie Ulrich Köhler (BUNGALOW, DE 2002), Henner Winckler (KLASSENFAHRT, DE 2002), Maren Ade (DER WALD VOR LAUTER BÄUMEN, DE 2003), Christoph Hochhäusler (FALSCHER BEKENNER, DE 2005), Benjamin Heisenberg (SCHLÄFER, AT/DE 2005) und Valeska Grisebach (SEHNSUCHT, DE 2006).1

Der folgende Text versucht im Sinne einer „Oral History” etwas zu erfahren von Zeit und Stimmung, Einflüssen und Kontexten, Lehrern und Kommilitonen, Freundschaften und Allianzen an der dffb ab Mitte der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre, als das nachträgliche Label „Berliner Schule“ noch nicht in Umlauf war. Der Text montiert Äußerungen von Thomas Arslan, Christian Petzold und Angela Schanelec sowie von Ludger Blanke, Michel Freerix, Stefan Pethke, und Wolfgang Schmidt, die parallel mit den drei Regisseuren der „Berliner Schule“ an der dffb studierten und dort gemeinsam ein filmästhetisches Milieu bildeten. Er basiert auf transkribierten Einzelgesprächen, die der Autor zwischen Januar und März 2015 mit ihnen führte.

Der Text ist in zwei größere Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel „Die Akademie“ montiert Erinnerungen und Äußerungen über die Erfahrungen an der dffb, das zweite Kapitel „Einige Filme“ handelt von einzelnen (nicht von allen) Filmen, die die Gesprächspartner während ihres Studiums fertigstellten.

DIE AKADEMIE

WOLFGANG SCHMIDT

1984 werde ich zum Studium an der dffb zugelassen. Ich studiere zu der Zeit noch in Hannover, befinde mich kurz vor Fertigstellung meines Studiums der Freiraumplanung, habe aber die Diplomarbeit noch nicht abgegeben. Die Arbeit (Titel: „Na schön! – Über Land Art, Naturskulptur, Kunst im öffentlichen Freiraum“) schreibe ich erst im Sommer 1985, da bin ich schon in Berlin.

In meinem Jahrgang wurden 18 Leute an die Akademie aufgenommen, aber nur 17 fingen tatsächlich an. Der Achtzehnte war Detlev Buck. Er hatte eine Filmförderung aus Hamburg erhalten, wurde für das erste Jahr beurlaubt und schloss sich dann dem Jahrgang nach uns an. Im September 1984 begann damals das Studium für mich. Ich war 27 Jahre alt, was dem Durchschnittsalter entsprach. Die Jüngsten bei uns waren 21.

LUDGER BLANKE

Ich komme 1985 an die dffb. Seit 1978 bin ich in Berlin, fange Anfang der 1980er an, Germanistik und Theaterwissenschaften zu studieren, wo ich auch Christian Petzold kennenlerne. Bei den Theaterwissenschaftlern gab es damals Dozenten wie Norbert Grob und Claudia Lenssen. Durch sie verschob sich mein Interesse vom Theater zum Film.

  • Porträt von Wolfgang Schmidt

    Fotografin: Robina Rose | Quelle: Privatsammlung Wolfgang Schmidt

    Porträt von Wolfgang Schmidt
  • Ludger Blanke in CANNAE (1989/90, Regie: Wolfgang Schmidt)

    Framescan | Quelle: Deutsche Kinemathek | dffb-Archiv

    Ludger Blanke in CANNAE (1989/90, Regie: Wolfgang Schmidt)
  • Michel Freerix (rechts) in RISSE (1989, Regie: Thomas Arslan)

    Framescan | Quelle: Deutsche Kinemathek | dffb-Archiv

    Michel Freerix (rechts) in RISSE (1989, Regie: Thomas Arslan)
3 Abbildungen

MICHEL FREERIX

Ich bin im gleichen Jahrgang wie Ludger, 1985. Ich kam vom Dorf und kannte eigentlich nur Fernsehen. Im Dritten Programm gab es diese Filmreihen, Jean-Luc Godard, François Truffaut, die ich mir alle angeguckt habe. Freunde von mir, unter anderem Mario Mentrup, hatten in der Phase angefangen mit Super-8 zu filmen. Mario kannte ich schon lange, der machte Musik, und wir haben zusammen bei einem Fanzine geschrieben. Ich habe vorher nie eine Kamera in der Hand gehabt. Ich habe geschrieben und Texte montiert. Und Fotografie hat mich interessiert. Und Theater. Ich wollte irgendwie mit so einem Medium arbeiten, das war mir vage bewusst. Dass es Film sein könnte, dass es eine Filmschule gab, das wusste ich nicht.

Ein Freund hatte dann im Fernsehen einen Bericht gesehen über die Filmschule und er hatte sich Bewerbungsunterlagen zukommen lassen. Er hat sich aber entschieden, sich nicht zu bewerben, und mir die Unterlagen gegeben. Ich musste die Bewerbung sehr schnell schreiben. Zeitgleich war ich auch angenommen worden als Student der Theaterwissenschaften. Es war also klar: Ich gehe nach Berlin, egal was kommt. Das Jahr 1985 war das Jahr, in dem die Aliens für mich landeten. Ich war drin, dachte ich. Ich meinte, man sei schon drin in dieser Filmwelt, wenn man diese Ausbildung erhält. Dass das aber nicht so ist, habe ich erst viel, viel später mitgekriegt.

THOMAS ARSLAN

Ich war 1986 in München als Student eingeschrieben, Germanistik und Geschichte. Ich hatte da aber schon vor, mich parallel an Filmhochschulen zu bewerben. Ich habe in dieser Zeit zwei Praktika gemacht. Beide bei jeweils einer Folge von KIR ROYAL (DE 1984‒1986) von Helmut Dietl, was wirklich interessant war. Eine gute Produktion, um ein Praktikum zu machen. Mein erster Film, noch vor der dffb, ist im Grunde nie richtig fertig geworden und war auch nicht als konsistentes Filmprojekt gedacht. Da bin ich mit ein paar Rollen 16-mm-Material nachts durch Hamburg gezogen und habe Aufnahmen gemacht. Auf Umkehrmaterial, es gibt keinen Duplikat-Film davon, es gibt nur ein paar Einstellungen, die ich provisorisch aneinandergehängt habe.

Parallel hatte ich mich bei den Hochschulen beworben, München und Berlin, und in Berlin hat es eben funktioniert. Ich war heilfroh, aus München wegzukommen. Ich bin mit der Stadt nicht warm geworden. 1986 bin ich dann nach Berlin gegangen. Das war für mich schon wirklich ein wichtiger Schritt, weil ich plötzlich ein Umfeld bekam. Das fehlte mir vorher komplett. Erst mal die Klasse, die Einführungskurse und so weiter. Ich kann nicht sagen, dass ich in dieser Zeit technisch wahnsinnig viel gelernt hätte. Das Umfeld aber hat alles extrem beschleunigt. Die Lust, Filme zu machen, dass man sich mit ein paar Leuten zusammentut und versucht, gemeinsam etwas auszuprobieren. Davor war ich eigentlich „lost“.

CHRISTIAN PETZOLD

Ich wurde 1988 an die dffb aufgenommen. Ich bin eigentlich nicht an die Filmakademie gekommen, weil ich eine Produktionslust hatte. Dieses Bilder-machen-Wollen, das ist ja eher so ein Mythos. Ich war nicht an der Filmakademie, weil in mir eine Bilderflut war und ich schon so viele Dinge gesehen hatte. Im Gegenteil: Ich hatte nichts gesehen. Beim Filmbetrachten im Theaterwissenschaftlichen Institut ahnte ich, dass da was ist, aber ich hatte noch nicht die Augen auf. Ludger Blanke, den ich bei den Theaterwissenschaftlern kennengelernt hatte, war 1984 an die Filmakademie gekommen, und dann haben wir natürlich am Seminarbetrieb partizipiert, weil die dffb ja ein Mythos ist. 

Ich glaube, das ist die beste Institution, die die Bundesrepublik je hervorgebracht hat. Ludger jedenfalls hat immer erzählt, was er so macht. Und ich traf seine Kommilitonen, unter anderem Michel Freerix. Ludger erzählte auch von den Seminaren bei Harun Farocki, der durch die „Filmkritik“ für mich ein Star war, und ich habe gefragt, ob ich daran teilnehmen kann. Und das war genau das, weswegen ich an die Filmakademie gegangen bin – solche Seminare. Nicht, weil ich unbedingt eine Kamera in die Hand nehmen wollte. Ich wollte erst mal Filme sehen. Und zwar „richtig sehen“.

STEFAN PETHKE

Die im Orgelpfeifen-Prinzip aufgereihten Sonnenbrillenträger Ludger Blanke, Christian Petzold und Thomas Arslan, aufgenommen 1990 in der damaligen Galerie Vincenz Sala in der Potsdamer Straße vor einer abgerockten Wand.

  • Ludger Blanke, Christian Petzold und Thomas Arslan „posen“ in der Galerie Vincenz Sala

    Fotografin: Ulla Hahn | Quelle: Privatsammlung Thomas Arslan

    Ludger Blanke, Christian Petzold und Thomas Arslan „posen“ in der Galerie Vincenz Sala
  • Stefan Pethke (links) mit Carl Wiemer

    Framescan aus IM SOMMER - DIE SICHTBARE WELT (1990/91, Regie: Thomas Arslan) | Quelle: Deutsche Kinemathek | dffb-Archiv

    Stefan Pethke (links) mit Carl Wiemer
  • Angela Schanelec als Darstellerin in ihrem Erstlingsfilm SCHÖNE GELBE FARBE (1991)

    Framescan aus SCHÖNE GELBE FARBE (1991) | Quelle: Deutsche Kinemathek | dffb-Archiv

    Angela Schanelec als Darstellerin in ihrem Erstlingsfilm SCHÖNE GELBE FARBE (1991)
3 Abbildungen

CHRISTIAN PETZOLD

Das Foto von Ulla Hahn in der Galerie Vincenz Sala, das mit den Sonnenbrillen, das war „posing“. Politisch hat das was damit zu tun, dass 1989/90 klar war, dass etwas vorbei ist. Die Filme, die wir alle gesehen haben, als wir in die Akademie kamen, von Gerd Conradt und so weiter, in deren Tradition wir automatisch steckten und uns auch gerne aufgehalten haben, nämlich die Gesellschaft anzugreifen, zu untersuchen und Labore zu bilden … – Ich hatte das Gefühl: Das ist vorbei. Im März 1990 war ja die letzte Wahl in der DDR, wo die Kohl-Marionette Lothar de Mazière gewählt wurde. Da war uns allen klar, dass dieser ganze Laden abgewickelt wird, und damit eine ganze Menge anderer Sachen. Wir sahen in dem ersten Moment wie eine Band aus, aber auf den zweiten Blick sollte das heißen: Wir wissen eigentlich nicht mehr, wo es langgeht. Wir sind ja nur noch blöde Künstler.

STEFAN PETHKE

Ich komme 1989 an die dffb. Ludger Blanke und Christian Petzold kenne ich da schon, noch aus dem Theaterwissenschaftlichen Institut an der FU. Das war in der West–Berliner akademischen Landschaft die Adresse, bei der man sich mit sehr guten Leuten und regelmäßig mit Film befasste. Ich bin damals total zufällig auf ein Seminar gestoßen von Yvonne Spielmann, „Tod im Film“. Da saßen alle möglichen Leute, unter anderem Andreas Wildfang, der seit Jahr und Tag das Eiszeit-Kino machte, Cord Riechelmann, und eben auch Ludger Blanke und Christian Petzold. Das war 1983, zu den Hochzeiten des West–Berliner Post-Punk-Wavertums.

Christian und ich sind dann 1987 in eine WG gezogen und später kam auch Ludger dazu. Ludger war zu dem Zeitpunkt bereits an der dffb, und er betrieb dann das Weiterreichen von Informationen: „An der dffb findet gerade ein Seminar statt, die Veranstaltungen sind offen, da kann man hingehen, wenn man es weiß.“ Das erste, was ich mitbekommen habe, war ein Robert-Bresson-Seminar von Harun Farocki. Ich bin vielleicht zwei oder drei Mal hingegangen.

MICHEL FREERIX

Christian Petzold kannte ich damals ziemlich gut, weil wir beide an der Schaubühne gearbeitet haben, als Kabelträger und Beleuchter. Und er war ein Freund von Ludger Blanke. Ludger hatte diese Einraumwohnung in Moabit, die 65 DM kostete. Voller Bücher, überall standen Bücher rum. Und Platten. Ein Bett, ein Ofen. Und stapelweise Bücher. Stefan Pethke war ein guter Freund von Christian. Jedes Mal wenn ich ihn traf, hatte Stefan ein anderes Design, eine andere Frisur, andere Klamotten, ein total anderer Mensch. Als wäre er ein Schauspieler und gerade wieder in einem anderen Film.

ANGELA SCHANELEC

1990, als ich an der dffb aufgenommen wurde, war ich schon in Berlin: als Schauspielerin an der Schaubühne. Ich hatte mich Jahre zuvor, direkt nach dem Abitur und total ahnungslos, schon einmal in München beworben, aber das hat nicht geklappt. Als ich in Berlin war, hatte ich dann die Idee, mit dem Spielen aufzuhören und mit dem Filmen anzufangen. Also sozusagen noch mal von vorne anzufangen.

Es war schon viele Jahre so gewesen, dass es mich irritiert hat, dass ich so wenig Lust hatte, ins Theater zu gehen. Das Theater kann großartig sein, aber eben auch meist ganz entsetzlich. Ich war immer in festen Verträgen und wollte da raus. Im Grunde waren es die Filme, die ich gesehen habe, wegen derer ich mich beworben habe, konkret Jean-Luc Godard und Robert Bresson. Und Antonioni. Entscheidend waren Godards SAUVE QUI PEUT, LA VIE (FR 1980) und Bressons L’ARGENT (CH/FR 1983) . Das waren wirklich wichtige Filme für mich. Und so fing das an, dass ich gemerkt habe, ich möchte das versuchen.

AUFNAHMEPRÜFUNGEN

ANGELA SCHANELEC

Was weiß ich noch von der Aufnahmeprüfung 1990? Das war ja eine ganze Woche, und ich fand es ziemlich gut. Ich war sowieso sofort total von der dffb eingenommen, weil ich darin eine Chance für mich gesehen habe. Ich weiß, wir mussten eine Kritik schreiben über einen Film von Roman Polanski, der Film mit dem Schrank und dem Wasser.

LUDGER BLANKE

Die Aufnahmeprüfung an der dffb dauerte eine ganze Woche, sie war die Hölle und ich habe sie zwei Mal gemacht, zuerst 1984. Am ersten Tag wurden uns hintereinander zwei kurze Filme gezeigt, einer von einem Studenten der Akademie und einer von außen. Danach sollten wir uns für einen dieser Filme entscheiden, konnten uns diesen Film noch einmal anschauen und danach eine Kritik schreiben. Ich fand beide Filme schrecklich und hatte die Idee, einen Text über beide Filme zu machen und darzulegen, warum sie trotz ihrer Verschiedenheit aus demselben Grund scheiterten: mit sozialem Anliegen verbrämter Kitsch.

Während die Filme wiederholt wurden und alle anderen Prüflinge in den Kinos saßen, flüchtete ich in den Aufenthaltsraum und spielte dort – um meine Nerven zu beruhigen und meinen hocherregten Gedankenapparat zu resetten – auf einem alten Automaten eine Partie Flipper. Das war ein fataler Fehler. Man hörte den Lärm des Flipperautomaten über den gesamten Flur und plötzlich stand die Prüfungskommission in der Tür und fragte, was ich dort mache. In der Nacht habe ich mich dann zusammen mit Detlev Buck betrunken, der die Prüfungskommission mit einem Sack Kartoffeln „bestochen“ hatte – und aufgenommen worden war.

ANGELA SCHANELEC

Und wir haben inszeniert. Das war ganz toll. Bei dieser Inszenierungsübung war ich ausgegangen von einem Bild von Edward Hopper. Dann waren da Darsteller, die bereit waren, mit den Bewerbern zu arbeiten. Und Hanns Zischler kam. Der hatte, ohne dieses Bild gesehen zu haben, das Gleiche an wie der Mann auf dem Bild, was mich sehr zuversichtlich gestimmt hat.

Ich hatte vorher noch nie gedreht und noch nie eine Kamera in der Hand gehabt. In der Aufnahmeprüfung habe ich in einer Schule gedreht. Man hat eine Super-8-Kamera gekriegt, und da bin ich in eine Schule gefahren, in ein Gymnasium, lustigerweise das Gymnasium, in das 20 Jahre später meine Kinder zur Schule gegangen sind beziehungsweise noch gehen. Ich habe in der Schule gedreht: Kinder, die warten.

MICHEL FREERIX

Wolfgang Schmidt lernte ich 1985 auf dem Flur bei der Aufnahmeprüfung kennen. Es gab Brötchen zu essen, es war im Mai, und es war sehr anstrengend, das eine Woche zu machen. Wolfgang hat das ein bisschen mitbetreut. Die Bewerbung war dann am Freitagabend durch, und ich bin danach ins Kino gegangen, Lars von Trier, THE ELEMENT OF CRIME (DK 1985). Der lief im Kant-Kino, und Wolfgang lief mir da über den Weg. Und dann haben wir darüber geredet, was in dieser Woche war. Ich war gerade erst im Februar nach Berlin gekommen und ging eh jeden Abend ins Kino. Mir war egal, was lief, ich guckte mir einfach Filme an. Nur in dieser Bewerbungswoche habe ich gar nichts hingekriegt.

WOLFGANG SCHMIDT

Ich weiß noch, wie ich Michel bei seiner Aufnahmeprüfung kennenlernte. Ich stand hinter einem Tisch und verteilte Kaffee und Kekse für die Prüfungsdelinquenten. Aus einer Mischung von Koketterie und Ironie sagte ich ihm, ich würde hier nur Kinderfilme machen. Aber Michel dachte, ich würde wirklich Kinderfilme machen, für den SFB, was er daneben fand. Abends habe ich ihn dann im Kant-Kino wiedergesehen, da lief THE ELEMENT OF CRIME von Lars von Trier. Der Film erschien mir unterirdisch, ihm ging es ähnlich. Seinerzeit hatten wir aber noch keinerlei Möglichkeiten, darüber ausführlich zu reden. Das hat sich erst später entwickelt. Irgendwann war klar, dass wir aus ähnlichen Verhältnissen kommen, aus Norddeutschland, vom Land. Darüber ist dann etwas entstanden.

FILMGESCHICHTE

MICHEL FREERIX

Im September ging es los. Wir hatten eine Einführungswoche mit Heinz Rathsack, eine Woche lang Filme aus der Geschichte der dffb. Da gab es OSKAR LANGENFELD. 12 MAL (1966) von Holger Meins, DER EINSAME WANDERER (1968) von Philip Sauber, NICHT LÖSCHBARES FEUER (1969) von Harun Farocki, Wolfgang Petersens ersten Film. Einen Film über eine Demo, von einem Kollektiv gemacht. Also die Filme aus dem ersten Jahrgang der dffb, diese Mischung der Anfangsphase aus politischem und ästhetischem Film. Mir war das alles ganz neu. OSKAR LANGENFELD, das sagte mir überhaupt nichts. Dass der diesem Typen hinterherläuft über die Köpenicker Straße, wie der da Holz sammelt; ich fand das total doof.

WOLFGANG SCHMIDT

In den ersten drei, vier Wochen warst du die meiste Zeit mit Filmegucken aus der Geschichte der Akademie beschäftigt. Filme, die Carlos Bustamante zusammengestellt hatte. Carlos war neben Robina Rose und Axel Brandt einer unserer Einführungskursdozenten. Er entstammte dem zweiten Jahrgang der Filmakademie, hatte also 1967 angefangen. Axel Brandt war ein Absolvent aus den 1970er Jahren und Robina war eine unabhängige Filmemacherin aus London. Gezeigt wurden zum Beispiel die ersten Harun-Farocki-Filme, Sachen, die Carlos Bustamante gedreht hatte, die Filme von Holger Meins, so etwas eben. Um die ganze Situation der Akademie und die Umstände ihrer Entstehung zu verstehen. Es gab noch Stephan Portmann, einen älteren Schweizer, der Filmklassiker zeigte wie FAHRRADDIEBE (IT 1951) oder Ähnliches. Der machte das schon über Jahre. Das fand ich ziemlich uninteressant.

MICHEL FREERIX

Der Typ aus der Schweiz, Stephan Portmann, der das Filmfestival in Solothurn leitete, hat einem klargemacht, was für ein Genie man sein muss, um überhaupt Filme zu machen. Das war wahnsinnig nervig mit dem. Man saß da und dachte: „Dann brauche ich ja gar nicht erst anfangen.“ Ludger Blanke war einer von denen, denen es besonders zuwider war, wie man da behandelt wurde.

Man war überfordert, hatte vier Filme am Tag gesehen und gleichzeitig musstest Du dich in der Stadt zurechtfinden. Man war dem zwölf Monate lang total ausgeliefert. Ich hatte überhaupt keine Zeit mehr für anderes, ich war immer an der dffb.

LUDGER BLANKE

Wir haben damals erfahren, dass es von Beginn an, schon im ersten Jahr, zwei Gruppen gegeben habe an der dffb. Einerseits die politisch Engagierten wie Hartmut Bitomsky, Philipp Sauber, Harun Farocki, Holger Meins. Und die anderen wie Wolfgang Petersen und Wolf Gremm, abfällig „Kuchenfilmer“ genannt. Kuchen als lecker schmeckende, aber ungesunde Süßigkeit. Zwei sich verfeindet gegenüberstehende Fraktionen.

Bei uns war das etwas anders, wir hatten zwar nicht einen dezidiert politischen Ansatz, wussten aber vom Streit um die politische und die ästhetische Linke in der Zeitschrift „Filmkritik“ Anfang der 1960er Jahre. Bei uns gab es einen ästhetischen, formalistischen Widerstand. Man muss das fast eher negativ definieren. Bei vielen gab es eine immer stärkere Unlust, einfach etwas zu reproduzieren, was es schon gab und was uns langweilte. Wir wussten ziemlich genau, was wir scheiße fanden. Das hat sich dann auch abgebildet in dem, was man später „Berliner Schule“ nannte. So wenig die Filme von Angela Schanelec und Christian Petzold auf den ersten Blick miteinander zu tun haben, uns allen war relativ klar, was wir nicht wollten.

Es war auch ein Widerstand gegen das Curriculum der dffb. Die Filmakademie wollte ja immer schon beides sein, eine Art Kunst-Freiraum für Film, ein Bildungs- und Forschungsinstitut, und gleichzeitig musste sie Handwerk vermitteln und Filmherstellung. Und das beides ist sehr schwer zusammenzukriegen. Mich hat es im ersten Jahr regelrecht fertiggemacht, lernen zu sollen, wie die hinterste Ecke eines Raumes ausgeleuchtet wird, und nicht gleichzeitig einen Begriff davon vermittelt zu bekommen, wie vielleicht Rembrandt oder Jan Vermeer Licht gesetzt haben. Kunstgeschichte, Theater- und Literaturgeschichte spielten keine Rolle an der dffb.

GRUNDKURSE

LUDGER BLANKE

Dann haben wir angefangen, Elementarkursseminare zu machen, die sich mit Schnitt, Kamera, Ton beschäftigen. Das war sehr verschult, jeden Tag von 10 bis 17 Uhr saßen wir in Klassenräumen und haben erst theoretisch, dann praktisch Sachen gemacht. Und nach einem Viertel- oder einem halben Jahr gab es die erste Tonschnitt-Synchronübung, wo wir eine Szene sehr einfach im Kollektiv gedreht haben und den ersten Filmschnitt probierten, das Anlegen am Schneidetisch, die Tonüberspielung. Erst später kam dann die Analyse dessen.

MICHEL FREERIX

Ludger Blanke, Thomas Findeiß und ich sind die Hauptdarsteller in unserem Grundkursfilm von 1985. Das ist eine Geschichte von Daniil Charms, die Ludger damals mitgebracht hatte. Wir hatten eine Rolle Material und einen Raum. Und dann sollte das zehn Mal kopiert werden und jeder sollte ein kleines Stückchen Film draus machen. Und Ludger kam mit diesem Text an und sagte, er würde keinen Meter Film belichten, ohne dass man vorher darüber spricht, was man da tut. Man sollte nicht nur irgendwas machen, sondern überlegen, was man macht. Und er schlug diesen Text vor von Charms, ein Dialog zwischen A und B, und zum Schluss landet das irgendwie im Himmel. Thomas Findeiß spielte den einen, ich den anderen. Aber Ludger wollte dann nicht den Regisseur spielen, er hat die Verantwortung gleich wieder abgegeben.

CHRISTIAN PETZOLD

Bei uns, 1988, war es so: Man wurde am Anfang in drei Gruppen eingeteilt, 18 Studenten à sechs, in die Grundkurse. Und wir hatten jeder einen Grundkursdozenten. Bei mir war das Lilly Grote. Die andere Gruppe war von Helmut Weiss betreut, der einen wahnsinnig schönen Film gemacht hatte, DIE VEREINIGTEN STAATEN VON ERINNERUNG (1984). Und den dritten Dozenten habe ich vergessen, ein Dokumentarfilmer. Da wurde es sofort politisch. Der sagte: Dokumentarfilm, das ist „a fly on the wall“ – die „direct cinema“-Direktiven. Das lehnte unsere Gruppe aber bereits ab, weil: Eine Kamera, die so tut, als sei sie nicht anwesend, kotzt mich bis heute an. Dieses etwas Inszeniertem Hinterherlaufen und so tun, als habe man keinen eigenen Standpunkt, sondern werde nur mitgezogen. Ich finde, man muss eine Einstellung finden. Wir gehörten zu der Gruppe „eine Einstellung finden“. Und dann gab es noch die Gruppe „Poesie“, wie sie abfällig von uns genannt wurde.

Obwohl wir also alle zufällig diesen Gruppen zugeteilt worden sind – das war eben automatisch das Schulische –, hat das sofort zu Konflikten geführt, die im Grunde auf einer Farce-Ebene die großen Konflikte des deutschen Films zur damaligen Zeit nachspielten. Wir hatten also Leute, die poetische Filme mit Nebelmaschinen machten. Wir hatten die amerikanische Gruppe, die mit Endoskopie-Kameras Kokaindealer-Geschichten machte. Und wir, die über die anderen Filme machen wollten und die deswegen verhasst war – und zwar zurecht. Das ist ja wirklich das Allerletzte: Keine eigenen Filme produzieren, aber die anderen vorzuführen! „Können wir euch bei den Dreharbeiten filmen?“ Da gab es richtige Sit-ins und so. Aber komischerweise mögen wir uns alle, der ganze Jahrgang.

FILMWELTANSCHAULICHES

LUDGER BLANKE

Die ersten Übungen, die wir 1985 in den Grundkursen machen mussten, waren vor allem darauf angelegt, den Studenten zu zeigen, wie schwer Filmemachen ist. Bei den ersten Übungen mit Licht haben wir Szenen geschrieben. Es ging aber vor allem darum, in so einem Raum erst mal überall Polecats einzuziehen, also selbstspannende Stangen, um Licht aufzuhängen. Zu zeigen, dass es nicht reicht, einfach eine Kamera aufzustellen und eine Szene geschrieben zu haben und ein paar Schauspieler zu inszenieren, sondern dass man erst mal die ganze Decke voll mit Lampen hängt und dann feststellt, dass die Tonangel jetzt überall Schatten wirft und dass man alles deshalb variieren muss. Für mich war das absolut deprimierend. Auch das Ergebnis: Das sah in jeder Beziehung scheiße aus. Trotz der Mühe, die wir uns geben mussten, war der Effekt, den das zumindest bei mir hervorrief, nicht, dass wir eine Erkenntnis hatten: Da gibt es eine Ökonomie zwischen dem Aufwand, den wir leisten, und dem Ergebnis. Genau das Gegenteil war der Fall. Bei mir hat das den Eindruck geweckt: Genau so nicht! Als ich ein paar Jahre später Grundkurse betreute und Licht- und Toneinführungen machte, habe ich versucht, das Gegenteil herzustellen, die Sachen einfacher und erfahrbarer zu machen.

Relativ schnell bildeten sich innerhalb der Studenten zwei Fraktionen heraus. Die eine war die, die die Filmakademie als Schule begriff. Die wollten möglichst schnell möglichst viel lernen, was das Handwerk betraf. Sie hatten die Auffassung, dass man Film so lernt wie ein traditionelles Handwerk. Leute, die eine straighte Schule wollten.

Und dann gab es die andere Fraktion, zu der ich gehörte, oder Angelika Becker und zwei oder drei andere, die das nicht überflüssig fanden, die aber sagten: „Dazu gehört noch mehr. Wenn wir das nur wiederholen und die Sache wie ein Handwerk angehen, führt das zu nichts.“ Leute, die eher von Jean-Luc Godard und von der Nouvelle Vague beeinflusst waren. Und diese Fraktionen standen sich schon relativ schnell ignorierend oder ablehnend gegenüber.

Die Gruppe von Leuten, die der Verschulung kritisch gegenüber stand, die mehr wollte als die nächsten Jahre damit zu verbringen, Handwerk zu lernen, wurde dauernd infrage gestellt. Die Dozenten sagten: „Lernt erst mal das Einmaleins des Filmemachens. Später, wenn ihr das alles beherrscht, könnt ihr darüber nachdenken, Filmsprache zu erweitern.“

WOLFGANG SCHMIDT

Wir wollten erfahren, was Film ist. Es ging nicht in erster Linie, um ein großer Filmemacher zu werden. Es ging mehr um das Verständnis, was die dffb damals auch hatte: als Filmforschungsinstitut. Herauszubekommen, was mit Film noch alles möglich ist.

MICHEL FREERIX

Für mich war klar: Im Fernsehbusiness will ich nicht sein. Als ich an die Akademie kam, fing das Privatfernsehen gerade an, und ich hatte zwischen 1985 und 1993 keinen Fernseher. Ich habe kein Fernsehen geguckt. Ich ging ins Kino, es gab nur Kino. Dann habe ich mir einfach den Freiraum genommen und gemacht, was ich wollte. Ich habe mich überhaupt nicht darum bemüht, Formen und Erzählweisen, die vorgelebt wurden, nachzumachen. Ich dachte, es geht darum, alles, was es gibt in der Filmgeschichte, zu benutzen, um selber was Neues zu machen.

STEFAN PETHKE

Zwischen den filmweltanschaulichen Lagern gab es aber leider keine richtigen Debatten. Sie fanden in gelegentlich aufflammenden Streitereien statt, wo man quasi zusammengezwungen war. Aber es war eher Debattenflucht. Ich glaube, das ist nicht untypisch für alle möglichen Kunstschulen, weil alle das Gefühl haben, dass ihnen die Debatte Zeit klaut für die Konzentration auf das, was sie selber machen wollen. Das führte aber eben dazu, dass an den Prozessen der Aneignung von Produktionsmitteln – und dazu gehört ja auch das Filmesehen und das Sprechen – 90 Prozent der Studenten nicht teilnahmen.

CHRISTIAN PETZOLD

In den Seminaren von Helmut Färber, Harun Farocki, Hartmut Bitomsky saßen zwischen fünf und zehn Leute aus der ganzen Filmakademie. Nicht mehr. Die dffb, das sind immer um die 60 Studenten. Das heißt: Die anderen sahen keinen Sinn darin. „Wir sind fünf Jahre da, haben fünf Jahre Produktionsmittel, Material, Filme, VW-Busse, Licht. Die müssen wir nutzen, nachher haben wir das nie wieder.“

Diese Argumentation ist mir nahegegangen, da ist ja auch was dran. Andererseits hatte ich für mich das Gefühl: Wenn ich die Kamera in der Hand habe, weiß ich überhaupt nicht, was ich machen soll. Ich dachte eher: Filme kann ich nachher machen. Ich muss erst mal was anderes machen, erst mal ganz viel wegschmeißen.

DER STREIK 1987 UND DIE FOLGEN

MICHEL FREERIX

Wir mussten da diese Seminare mitmachen, bei denen uns immer nur erklärt wurde, dass wir Niemande seien. Man sollte selber lernen. Aber wenn wir Vorschläge machten, wurden die ignoriert: Das ganze Programm war ja immer schon für ein Jahr vorbereitet. Der Studienleiter hieß damals Gerhard Lechenauer, ein ganz softer, schweigsamer, sehr weicher Typ, der keine Position vertrat. 

1987 wurde der Unwillen darüber groß, dass man dauernd in so einem Strom war, aber selber gar nicht mehr zur Besinnung kommen konnte. Man konnte nicht sagen, dass man gerne mehr davon oder davon hätte. Das ging nicht rein in die Akademie, das wurde ignoriert. Das war alles vorstrukturiert und wurde durchgezogen. Wir haben dann ganz klar gesagt: Unter diesen Bedingungen ist die Ausbildung nichts wert.

      1 Abbildungen

      MICHEL FREERIX

      Ludger hatte dann 1987 diesen Text gemacht und ausgehängt, und aus der Studentenschaft kam Zustimmung. Und dann wurde gestreikt. Wir haben die Schlüssellöcher verklebt und sind sechs, acht Wochen lang nicht hingegangen, bis auf die paar Schlaumeier, die sich in den Schneideraum geschlichen haben, weil sie unbedingt ihren Zweitjahresfilm fertig machen wollten.

      Die Folge des Streiks war, dass Lechenauer seinen Job verlor und es eine komissarische Studienleitung gab, dass die Studenten das Wochenprogramm gemacht haben und dass wir nach eigenem Gutdünken Regisseure einladen konnten. Samuel Fuller war einer von denen oder „die Straubs“, Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Wir haben Straub angesprochen, Thomas Arslan war dabei, Ludger Blanke, ich, noch zwei, drei andere.

      LUDGER BLANKE

      Ab 1987 hat es dann eine Art Öffnung gegeben, nachdem Marin Martschewski Studienleiter wurde. Es wurde offener. Die Standarddozenten, mit denen sie 80 Prozent der Lehre machten, wurden reduziert, und es war auf einmal viel mehr Platz und Offenheit und Luft da für die Sachen, die von außen rein kamen. Was dazu führte, dass wir in der tollen, aber auch anstrengenden Situation waren, die Leute zu rekrutieren. Thomas Arslan kannte ein paar Leute aus München, und ich habe mir irgendwann von Manfred Blank die Telefonnummer von den Straubs in Rom besorgt. Eine Woche lang habe ich mich nicht getraut, und dann irgendwann mal sonntagsnachmittags da angerufen. Die Straubs fanden das gut: „Warum denn nicht.“ Und das ging dann relativ einfach, ein paar Wochen waren die da und haben irgendeinen ihrer sizilianischen Filme geschnitten. Und daraus entstand wieder ein Engagement an der Schaubühne, „Antigone“, wo eine dffb-Studentin mitspielte, Astrid Ofner.

      THOMAS ARSLAN

      Im Seminar von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet konnten wir beim Feinschnitt zu SCHWARZE SÜNDE (DE/FR/IT 1990) dabei sein. Später gab es noch mal ein anderes Projekt, sie haben ANTIGONE (DE/FR 1992) hier aufgeführt, auf Grundlage der Brecht-Bearbeitung, und gleichzeitig gab es dazu ein Seminar an der dffb. Man konnte an den Proben teilnehmen. Die Theaterarbeit sollte in einen Film münden. Da sind natürlich extrem unterschiedliche Ansätze aufeinandergeprallt, das damals schon selbstgefällige Schaubühnen-Gebrabbel und dieser sehr elaborierte Ansatz der Straubs, bei dem es um Rhythmik und Metrik ging. Die hatten sich mitunter sehr in den Haaren. Und wenn zu viel diskutiert wurde, hat die Danièle Huillet mit einem herrischen Satz das „Gelaber“ unterbrochen. Und dann wurde weitergearbeitet. Aber die meisten Schaubühnen-Schauspieler konnten damit wenig anfangen, sie fühlten sich missbraucht als Resonanzkörper. Da prallten sehr unterschiedliche Vorstellungen von vermeintlicher Freiheit und Nicht-Freiheit aufeinander.

      SEMINARE — HELMUT FÄRBER

      LUDGER BLANKE

      Helmut Färber war ein regelmäßiger Dozent. Eigentlich war es ganz ungewöhnlich, denn er passte in so was wie „Schule“ überhaupt nicht rein. Was er machte, ließ sich nicht richtig einordnen, auch deshalb gingen die „Kuchenfilmer“ nicht zu seinen Veranstaltungen. Es gab keine Ökonomie in diesen Seminaren. Und genau das erweiterte unseren Blick, vor allem unseren historischen. Es war wie eine Bremse, eine Verlangsamung.

      ANGELA SCHANELEC

      Helmut Färber kam einmal im Jahr. Das war toll, weil wir einen Film am Schneidetisch, jetzt habe ich in Erinnerung: vier Wochen lang, geguckt und besprochen haben. Das war wichtig. Zum Beispiel Jean Renoirs DÉJEUNER SUR L’HERBE (FR 1959)  und ein Jahr später MOUCHETTE (FR 1967) von Robert Bresson. Ich erinnere mich an die Genauigkeit und den Ernst dabei. Dass es immer nur um die Sache ging, um nichts anderes. Nicht darum, ob jemand irgendetwas versteht oder irgendwas verwertbar ist, sondern immer nur um die Sache. Und dass es etwas ist, worein man sich versenken kann.

      Das war aber nicht sakral, ganz im Gegenteil: Mich hat das erleichtert und befreit. Ich habe eine große Zufriedenheit empfunden, mir immer wieder die gleiche Szene anzugucken. Unter dem Aspekt des Vorankommens habe ich das überhaupt nicht gesehen. Das Vorankommen, das war für mich kein Kriterium, kein Begriff, der für mich eine Rolle gespielt hat. Für mich ging es eher um den Moment, um das Bestehen auf den Moment, jenseits der Konsequenzen, die das haben kann, oder der Folge, dass man dadurch irgendwo hinkommt.

      WOLFGANG SCHMIDT

      Die Färber-Seminare machte die Ernsthaftigkeit und Strenge der Arbeit am Film aus. Strenge meint hier nicht Lustfeindlichkeit. Das verschmitzte Wesen Helmut Färbers ist notorisch. Das Filmbild als etwas Eigenständiges zu betrachten, das zunächst einmal völlig unabhängig von dir existiert. Und der Versuch, dem gänzlich unvoreingenommen gegenüberzutreten und dem einen entsprechenden Wert entgegenzubringen. Es wurden immer Originalkopien gesehen, in der Projektion, dann am Schneidetisch, dann wieder in der Projektion. So intensiv kam das nur bei Färber und bei Harun Farocki vor. Man sprach über etwas und dachte: „So, jetzt müssen wir das mal wieder auf der Leinwand sehen.“ Weil es sich auf der großen Leinwand dann wieder ganz anders darstellt. Diese Genauigkeit war etwas, was viele Leute gar nicht ausgehalten haben. An welche Seminare ich mich spontan erinnere? Eines zum Beispiel über NICHT VERSÖHNT (DE 1965) von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, der einem der frühen Mabuse-Filme von Fritz Lang, DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE (DE 1932/33), gegenübergestellt wurde. Ein anderes Seminar beschäftigte sich mit Jean-Luc Godards LES CARABINIERS (FR/IT 1963).

      THOMAS ARSLAN

      Bei Färber gab es gezielte Schwerpunkte. Mehrmals Yasujiro Ozu, Jean Renoir, manchmal auch nur einen Film über mehrere Wochen. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein fantastisches Seminar über Renoirs PARTIE DE CAMPAGNE (FR 1946). Diesen Film schauten wir erst im Kino, dann tagelang am Schneidetisch und zwischendurch wieder im Kino. Dabei hat man sich einen Film Kader für Kader vergegenwärtigt. Wir versuchten, da einzutauchen. Obwohl Helmut Färber eigentlich alles weiß, was es dazu zu wissen gibt, hat er einen damit bewusst nicht behelligt. Es ging erst mal ausschließlich um das Gesehene: „Was hat man in den ersten zehn Minuten des Films gesehen?“ Wir sollten die Einstellungsfolgen erinnern, und es war frappierend, welche Unterschiede da zusammenkamen: Einstellungen, die gar nicht im Film vorkamen; Einstellungsfolgen, die völlig vertauscht waren, obwohl man das direkt danach aufgeschrieben hatte. Die erste Einstellung zum Beispiel wurde völlig unterschiedlich erinnert. Das war schon sehr gut, weil es gar nicht von einem Wissen, einem filmhistorischen Informationswust ausging, den man mit auf den Film packt. Man schaute erst mal nur, was man während des Betrachtens eines Films wahrnimmt: Was könnte das bedeuten? Und was ist der Anteil des Films daran? Das waren sehr eindringliche Seminare, die für mich sehr wichtig waren.

      WOLFGANG SCHMIDT

      Die Filme so intensiv am Schneidetisch zu gucken, das war eigentlich das Wichtigste. Das hat dann auch mit den eigenen Filmen zu tun. Der Schneidetisch ist der Ort, an dem ich für mich am meisten gelernt habe, auch retrospektiv, was den Dreh angeht. Du siehst da, was du gemacht hast, was du als vorläufiges Ergebnis erst einmal so akzeptieren musst und welche Möglichkeiten der Montage sich für dich neu und unerwartet ergeben. Das Material zur Gänze entwickeln. Einen neuen Blick darauf zu werfen und erst aus dem vollzogenen Schritt den nächsten entwickeln. Das Glück, das Filmemachen geben kann, ist für mich im Wesentlichen die Erfahrung am Tisch, eine funktionierende Übersetzung für ein gestelltes Problem jenseits von billigen Konventionen gefunden zu haben.

      STEFAN PETHKE

      Howard Hawks BRINGING UP BABY (US 1938) war mir immer viel zu klamottig – bis zu dem Seminar darüber bei Helmut Färber. Solche Wertschätzungsveränderungen fanden da oft statt. Das lässt sich leicht subsumieren unter die Kategorie „Geschmackserziehung“. Man hat die Filme nicht so geguckt, dass man aus Kamerabewegungen etwas für das eigene Filmemachen lernt. Man guckte eher danach, ob das, was man da sieht, schlüssig ist, und überlegte dann, ob und wie man eine ähnliche Schlüssigkeit beim Konzeptualisieren der eigenen Arbeiten finden könnte.

      MICHEL FREERIX

      Die frühen Filme von D. W. Griffith zeigte Färber häufig. Griffith hatte ja oft keine Drehbücher, sondern nur Gedichte oder einen Entwurf von drei Zeilen. Er hat die Filme mit seinen Leuten am Set entwickelt. Man fuhr morgens raus in einen Wald, drehte, und abends fuhr man zurück und der Film war fertig. Das fand ich toll: Wie leicht da einer Filme machte! Und das machte der jahrelang, sechs Filme in der Woche. Montags fing man an, Samstagabend hörte man auf, Sonntag war frei. Und man konnte in dem frühen Kino alles sehen: Warum Schauspieler von da nach da gehen, warum sie das und das machen.

      CHRISTIAN PETZOLD

      Beim Seminar über D. W. Griffith hatte Färber dessen One-Reeler vom Filmmuseum in München bekommen. Die wurden alle teuerst auf 35 Millimeter gezogen. Und bei uns sind die dann kaputtgegangen, da sind zwei Schrammen reingefahren bei der Arbeit am Schneidetisch. Danach kamen nie wieder Kopien aus München. Wir hatten damals einen Produktionsleiter, Hans W. Müller hieß der. Färber kam also mit seinen Griffith-Filmen, und die sahen wir im Kino. Und dann kam dieser Müller rein, der Produktionsleiter, und guckte sich diese Filme so 30 Minuten lang an, ging irgendwann wieder raus und sagte dann später zu Färber, die Filme seien ja wie Johann Peter Hebels „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds“. Färber war drei Tage lang glücklich. Da war in einem Satz zusammengefasst, dass einer mit dem Kino für Amerika das leistete, was Hebel mit seiner Sammlung bewirkt hatte. Die Filme von Griffith, das sind Nachrichten, und aber auch Volksgeschichten. Darüber haben wir dann drei Tage lang geredet, und wir hatten alle das Gefühl, es gebe eine Versöhnung mit der Arbeiterklasse.

      SEMINARE — HARUN FAROCKI

      CHRISTIAN PETZOLD

      Das, was Helmut Färber und Harun Farocki in der Zeit an der dffb machten, war das Intensivste, was ich im weitesten Sinne in einem Seminarzusammenhang erlebt habe. Ein Schneidetisch, eine Kopie, aber erst mal ins Kino gehen und den Film sehen. Und dann an den Schneidetisch, um Einstellung für Einstellung anzuschauen. Dann wieder die 35er-Rolle nehmen (das waren immer so 18 Minuten), wieder ins Kino und das Ganze noch mal im Zusammenhang sehen. Das klingt alles so, als ob man den Mythos oder das Geheimnis eines Films dadurch zerlegt und analysiert. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Man löste etwas auf, und am Ende war es noch geheimnisvoller als vorher. Vertieft. In den Seminaren von Harun haben wir sehen gelernt. Weil die Filme ja etwas gesehen haben, und das, was sie gesehen haben, mussten wir lernen. (Vgl. den Beitrag "Wie Filme sehen" von V. Pantenburg). Das konnten wir an den Schneidetischen. Da saßen Leute, die Filme machen wollten, und die redeten über einen Gegenstand, und der war da. Harun Farocki merkte, wie jemand durch das Reden eine Ordnung in seine Gedanken bekam, und wie sich diese Ordnung aus seinen Gedankengängen ergab, aber die Referenz war verschwunden. Und da hat er immer gesagt: „Okay, lass uns das noch mal angucken. Stimmt das?“ Immer wieder die Rückführung auf den Gegenstand – im Gegensatz zu Apparatschiks und Funktionären, wo sich eine akademische Ordnung verfestigt und ihren Gegenstand verlässt. Immer wieder: „Stimmt das denn? Lass uns noch mal ins Kino gehen.“

      LUDGER BLANKE

      Die Zeitschrift „Filmkritik“, zu deren Redakteuren Harun Farocki zählte, kannte ich schon aus dem Studium bei den Theaterwissenschaftlern. Das waren so was wie heilige Texte. Wir fanden einfach alles toll an der „Filmkritik“: die Ästhetik, die Texte, die Autoren, die Sprödigkeit. Ein unglaublich freies, präzises und gleichzeitig fast romantisches Projekt. Harun Farocki habe ich dann kennengelernt, als er BETROGEN (DE 1985) – seinen Versuch, einen Genrefilm zu machen – an der Filmakademie vorstellte. Für Harun Farocki muss das eine niederschmetternde Erfahrung gewesen sein, denn niemand mochte den Film. Das muss 1985 gewesen sein.

      Die Seminare hat Harun oft nicht alleine gemacht, sondern meistens zusammen mit Axel Block, einem Kameramann. Das war ein komplett offenes Arbeiten. Harun hat dennoch versucht, eine Art Disziplin zu entwerfen, wir mussten Hausarbeiten machen und sie auch präsentieren. Wir haben die Filme als Kopien besorgt, die wir dann am Schneidetisch sahen und wirklich Einstellung für Einstellung durchgegangen sind. Manchmal haben wir über zehn Sekunden eines Films zwei Stunden lang geredet. Harun versuchte die ganze Zeit, das zu erweitern, das zu einer komplexen Inansichtnahme zu führen, uns nicht zu reduzieren auf Technik, auf Produktionsbedingungen und Inhaltistisches, sondern das möglichst weit zu fassen, den Blick zu öffnen. Das war das Tolle daran. Das entsprach komplett unserer Vorstellung vom akademischen Lernen. Trotz der guten Seminare, die ich an der FU zum Beispiel bei Claudia Lenssen oder Norbert Grob gehabt hatte, war das wirklich etwas Außergewöhnliches. Diese Zeit und diesen Luxus zu haben, so was entstehen zu lassen bei den Leuten.

      STEFAN PETHKE

      Harun Farocki war sicherlich viel stärker ein Virtuose der Nebenbemerkung als Helmut Färber, der dann doch Sachen entwickelte und auch mal ganz lange schwieg, bevor er einen Satz sagte, so dass das eine ganz andere, mönchische Atmosphäre bekam. Bei Färber war man eher in Klausur. Bei Farocki ging es viel stärker um einen Flow im Sprechen. Was entsteht da? Ich kann mich zum Beispiel an Momente erinnern, wo Gegen-Kanonisierungen stattfanden: Wir schauen Michelangelo Antonionis Professione: REPORTER (IT/FR 1975), haben den ersten Akt auf dem Teller. Alles ist ganz grandios! Und dann kommt man aber bei der London-Sequenz des Films an und Harun Farocki bringt es mit einer einfachen Unmutsbekundung auf den Punkt – Stichwort „flache Hierarchien“, was ja auch wichtig war für dieses Diskutierformat am Schneidetisch: Dass er das da einfach läppisch finde, dass Antonioni da in London nichts eingefallen sei. Also „flache Hierarchie“ auch im Hinblick auf den „Meister“ auf dem „Seziertisch“. Ich hätte mich nicht mal getraut, so was zu empfinden.

      MICHEL FREERIX

      Oft haben wir darüber geredet, wie doof die Geschichte eines Films ist, wie einzelne Szenen aber trotzdem interessant sein können. Oder wie ein eigentlich ganz interessanter Film ganz viele doofe Szenen haben kann. Wo man dann sagt: Das ist nicht gut vorbereitet oder es entwickelt sich ganz fahrig zu einem Punkt, aber trotzdem ist der Film irre.

      Ich kann mich erinnern an Jacques Demys LOLA (FR/IT 1961), wie der Film eine ganz simple, eigentlich doofe Geschichte total toll zeigt. Über manche Filme haben wir drei Wochen lang geredet, über manche nur drei Stunden.

      THOMAS ARSLAN

      Bei Farocki gab es eine starke Mischung, eine sehr unorthodoxe Auswahl aus Genrefilmen und dokumentarischen Arbeiten. Das war sehr wenig streng oder ideologisch. Da stand ein Film von William Friedkin neben einem von Raymond Depardon und wurde mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht, im Gucken und im Reden darüber. Das war eher so eine Anleitung zu einem offenen Denken, einer offenen Wahrnehmung.

      STEFAN PETHKE

      Es gab relativ bald tatsächlich freundschaftliche Verbindungen, ein „Erkennen“ zwischen Harun Farocki und Ludger Blanke, Christian Petzold und natürlich auch Wolfgang Schmidt und Thomas Schultz. Da saßen durchschnittlich ein halbes Dutzend Leute, manchmal zehn, manchmal nur vier. Es war relativ intim, was dann auch so was wie Redehemmschwellen nach unten drückte. Und dann wurde das Fußballspielen bei Tasmania relativ schnell zur weiteren Verbindung zwischen uns. Christian hatte gesagt: „Wenn ich mitmachen darf, will ich dabei sein.“ Und ein Jahr später ging es mir genauso. Und irgendwann kam Thomas Arslan dazu, und der brachte Horst Markgraf mit, und dann wurde Tasmania eine Zeitlang eine von der dffb mitgeprägte Fußballmanschaft. Ich finde das ganz bezeichnend für den Wunsch, etwas Populäres zu verbinden mit der Suche nach so was wie einer avantgardistischen Besonderheit. Die dffb war ja damals noch relativ stark politkunst- und hippiebewegt.

      THOMAS ARSLAN

      Im Großen und Ganzen waren die Teilnehmer dieser Seminare – von Hartmut Bitomsky, Manfred Blank, Helmut Färber, Harun Farocki, Frieda Grafe, Peter Nau, Hanns Zischler – identisch. Dadurch hat sich ein Diskursraum geöffnet. Man drehte natürlich auch hin und wieder und hatte keine Zeit, deswegen war das nicht immer die identische Besetzung, aber es war schon ein Kern von Leuten: Ludger Blanke, Michel Freerix, Wolfgang Schmidt, Stephan Settele, Christian Petzold, Angela Schanelec, Stefan Pethke – ich vergesse jetzt sicherlich den ein oder anderen. Und man sprach dann natürlich auch noch darüber hinaus miteinander über das Kino.

      KINO: „Studentisches Forum“

      MICHEL FREERIX

      Es ging in der Zeit nicht nur um Filme. Es gab ja noch diese Hausbesetzerszene in Berlin, es gab noch Politik, und als Junge vom Dorf, der bisher alles nur im Fernsehen gesehen hatte, war ich da zum ersten Mal in politische Prozesse involviert. Ich habe dann sehr viele Aufgaben in der Akademie übernommen. Ich habe die Filmgeschichtsreihe übernommen, die wir jemandem weggenommen haben, der das unserer Meinung nach nicht so toll machte. Das war so Ende 1986, Anfang 1987. Ich habe das dann zwei oder drei Jahre lang mitgemacht. Die Akademie hatte über die Kinemathek Zugang zu vielen Kopien, die nichts kosteten. Man musste die nur früh genug anfordern, dann konnten die gezeigt werden. Ich konnte also einfach durch diesen Katalog durchblättern und mir alles aussuchen, was da war. Und das war sehr interessant. Das lief freitagnachmittags. Da kam oft niemand, es gab kein großes Interesse an alten Filmen.

      STEFAN PETHKE

      Das „studentische Forum“ war ein Kinotermin am Freitag. Wenn ich das richtig erinnere, war das alle zwei Wochen. Das war ein zentraler Termin und wichtig für meine Wahrnehmung von der „Berliner Schule“, zumindest der Männer, die das betrifft. Es bedeutete eine große Aktivität innerhalb der Institution, wo man sich Filme und teilweise auch Leute ranholte. Wichtig war die Verbindung zur Deutschen Kinemathek, wo damals Christiane Habich arbeitete. Zwischen ihr, Thomas Arslan und Michel Freerix enstand so ein intensiver Kontakt. Diesen Termin haben in dieser Zeit kaum andere Leute bespielt. Wir reden hier im Großen und Ganzen von drei Leuten, Freerix, Arslan und Petzold, die sich darum gekümmert haben, dass man da Filme sehen kann. Das ist wirklich ein Schatz gewesen, ein Luxus in einer Zeit vor der DVD.

      Wichtig war an der dffb: Es gab eher Budgets als Satzungen. So wurde da auch ein eher freies System aufgebaut. Man wusste, dass man Geld ausgeben kann. So konnten Petzold und Arslan davon reden, dass sie beide gelesen haben, dass es da diesen jungen Filmemacher in München gibt, der ein paar Kurzfilme gemacht hat: „Lass uns den doch mal einladen.“ Und dann kam Romuald Karmakar. Und das war finanzierbar, was entscheidend ist, denn es muss ja bezahlt werden, dass jemand kommt, und das war auch der Anspruch, dass es nicht so ein „Komm, ist doch cool hier an der Filmschule was zu zeigen. Das machst du doch umsonst“ wird. Das war ein Terrain, was man bespielen konnte, und in dem man zeigen konnte, was man interessant fand.

      THOMAS ARSLAN

      Diesen Freitagstermin programmieren konnte jeder. Es haben sich nur nicht wahnsinnig viele Leute außerhalb unserer erweiterten Gruppe daran beteiligt. Es war also nicht so, dass wir da etwas an uns gerissen hätten. Hauptsächlich waren das Michel, Ludger, Angela und ich. Und ab und zu Christian. Das „Studentische Forum“ fand freitagnachmittags statt, damit es nicht mit den anderen Veranstaltungen kollidierte. Mal war es sehr leer, mal sehr voll. Der, der den Film ausgesucht hat, hat dazu eine kleine Einführung gehalten und danach hatte man draußen die Gelegenheit, zu sitzen und ein informelles Gespräch darüber zu führen. Wir haben immer kleine Infoblätter dazu gemacht, die in dem Verteiler des Hauses auslagen oder ausgehängt wurden. Ein Foto, eine kleine Beschreibung – es gab eine minimale redaktionelle Arbeit, um das anzukündigen.

      • Ankündigung zu VIER NÄCHTE EINES TRÄUMERS (FR/IT 1971, Regie: Robert Bresson)

        Quelle: Privatsammlung Thomas Arslan

        Ankündigung zu VIER NÄCHTE EINES TRÄUMERS (FR/IT 1971, Regie: Robert Bresson)
      • Ankündigung zu BIKE BOY (US 1967, Regie: Andy Warhol)

        Quelle: Privatsammlung Thomas Arslan

        Ankündigung zu BIKE BOY (US 1967, Regie: Andy Warhol)
      2 Abbildungen

      THOMAS ARSLAN

      Zum Beispiel hatten wir den damals jüngsten Film von Monte Hellman, der in Deutschland nicht ins Kino kam, IGUANA (CH 1988), mit Leuten, die Echsengesichter haben, halb Mensch, halb Tier. Ich kann den gar nicht mehr so richtig erinnern. Wir haben jedenfalls Sachen rausgesucht, bei denen es sonst schwer gewesen wäre, sie zu sehen.

      STEFAN PETHKE

      Es gab diese Artikel von Diedrich Diederichsen über die Filme von Herschell Gordon Lewis – zack, sofort wurden die bestellt. Und man kann sich vorstellen, dass dann Leute sagen: „Splatter? Hier? An der dffb? Seid ihr alle meschugge? Das finden wir das Letzte!“ Es war also klar, dass wir das für uns machen.

      THOMAS ARSLAN

      Oder zum Beispiel die beiden Teile von LA ROSIÈRE DE PESSAC (FR 1968/1979) von Jean Eustache, der vor Ewigkeiten mal im ZDF lief. Auch damals schon waren die Rechte abgelaufen, und deswegen gab es keine Aussicht auf Wiederholung. Wir haben dann vom ZDF noch eine Zweiband-Kopie bekommen, also Ton und Bild getrennt.

      STEFAN PETHKE

      Nach der grundsätzlichen Hinwendung zu Pop war die entscheidende ästhetische Prägung, die ich wahrnehmen konnte, die hin zum französischen Kino, und zwar zur zweiten Nouvelle Vague, also Garrel, Doillon, Eustache, Pialat. Das ging ausschließlich von Thomas Arslan aus. Alle anderen waren dann da, aber betrieben hatte das Arslan. Damals wurde gleichzeitig auch das zeitgenössische Kino aus Hollywood geguckt. Das wurde nicht mit spitzen Fingern angefasst. Das war der große Unterschied zu 90 Prozent der Studentenschaft und vermutlich zu 95 Prozent der Dozentenschaft.

      THOMAS ARSLAN

      Wir haben uns ganz stark für Filmemacher interessiert, die etwas später kamen. Aus Frankreich zum Beispiel Garrel, Eustache, Pialat, Doillon, die in Deutschland nicht wirklich kanonisiert waren und deren Filme man kaum kannte. Wir haben uns die Kopien bestellt für diesen festen Kinotermin. Damals gab es ja noch keine DVDs. So waren das Möglichkeiten, diese Filme überhaupt mal zu sehen. Das hat auch einen produktiven Diskurs hergestellt.

      MICHEL FREERIX

      Man traf aufeinander, man kannte sich nicht, aber dann hat man relativ schnell festgestellt, mit welchen Filmen man was anfangen konnte, dass man gemeinsame Filminteressen hatte. Ich hatte die mit Ludger Blanke, Angela Schanelec und Thomas Arslan. Man saß dann zusammen im Kino. Es war keine Gruppe, aber durch das gemeinsame Interesse hatte man miteinander zu tun.

      ANGELA SCHANELEC

      Thomas, das weiß ich noch, hat J'ENTENDS PLUS LA GUITARE (FR 1993) von Philippe Garrel gezeigt. Da waren nur ganz wenige im Kino. Für mich war das ein Film, den ich endlos gesehen habe, immer und immer wieder. Der lief bei mir wie eine Schallplatte.

      THOMAS ARSLAN

      Bis Anfang oder Mitte der 1990er Jahre steckte die deutsche Filmkultur ja in einer merkwürdig restaurativen Phase, wo man die positiven Aspekte des Neuen Deutschen Films (an dem ja auch nicht alles gut war) in der Öffentlichkeit mehr oder weniger „entsorgen“ wollte. Was dem dann entgegengesetzt wurde, war im Grunde ein provinzieller Mief. Biedere Komödien oder so was wie das Bernd-Eichinger-Projekt GERMAN CLASSICS (DE 1996/97). Eigentlich sollte 1968 geradezu vergessen gemacht werden. Das fanden wir ungeheuer beengend. Man muss ja nicht alles an dem Neuen Deutschen Film toll finden, aber was eine Qualität war, ist doch diese Öffnung zur Welt, die der deutschen Nachkriegskultur immer schwer gefehlt hat. Eigentlich auch der Versuch einer Kommunikation mit anderen Kinematografien, dem Independent Kino aus den USA, der Nouvelle Vague in Frankreich.

      CHRISTIAN PETZOLD

      Es ging auch darum, die Möglichkeiten wieder auszugraben, die am Anfang einer Bewegung da sind und die später verschüttet werden. Die sind dann zwar zertrümmert, aber man kann trotzdem versuchen, da wieder anzusetzen. Ein verschütteter Weg, den man eigentlich wieder freischaufeln müsste. Deshalb interessierten wir uns auch so für die Münchner Gruppe, also Rudolf Thome, Klaus Lemke, Gerhard Theuring. Bei mir war das der Film von Alexander Kluge, ABSCHIED VON GESTERN (DE 1966), den ich für seinen besten halte. Da hat man dann gedacht, dass es sich lohnt, an diese Anfänge zurückzugehen. Denn im deutschen Film dazwischen war ja unglaublich viel Mist dabei. Die dauernden Literaturverfilmungen mit den Schaubühnen-Schauspielern.

      Man kann diese Suche auch an der Reinheit der Filme der „Berliner Schule“ erkennen. Bei Angela Schanelec gibt es das, bei Thomas Arslan, bei Wolfgang Schmidt. Man musste den ganzen Scheiß erst mal wieder wegräumen, um die Grundformation wiederzufinden. Das fand man auch bei Hartmut Bitomsky in den Seminaren zu John Ford, wo es ja so eine Klarheit gibt, die dann durch den Italowestern völlig zerstört wurde. Es gibt immer einen historischen Moment, der zugeschüttet wird, zu dem man aber wieder zurück muss.

      MITARBEIT UND ALLIANZEN

      MICHEL FREERIX

      Man kam durch die Seminare bei Harun Farocki und Helmut Färber auf eine sehr einfache Art, Geschichten zu erzählen. Dass man sich etwas überlegte, was mit sehr wenig Aufwand zu erzählen war. Es gab an der Akademie nur ein paar Lampen und ein paar Kameras. In der Regel war alles leergeräumt. Man musste sich sechs Monate vorher dafür anmelden. Man konnte nicht schnell mal irgendwo hingehen. Es gab ein Drehbuch, damit ging man zum Produktionsleiter, dazu wurde eine Kalkulation erstellt. Dann hatte man seinen Etat, das waren 8.000 DM im ersten Studienjahr, 18.500 DM im zweiten und im dritten. Davon musste man bezahlen: Material, Kopierwerkskosten, Nullkopie. Der Rest wurde von der Akademie gestellt. Kameratechnik war da, und zwar 16 Millimeter, für 35 Millimeter gab es eine ungeblimpte Kamera. Es gab auch eine geblimpte, aber die hatte irgendwann einen Schaden bekommen, so dass die laut war. Man konnte die also im Ton hören, deswegen wurde die eigentlich nicht mehr benutzt. Das war ein toller großer Kasten. Ein paar Leute haben mit der gedreht, Frank Behnke zum Beispiel hat mit der gearbeitet, ohne Ton und dann nachvertont.

      Man musste ja innerhalb der Akademie miteinander Filme machen. Und dann gab es immer Anfragen von Leuten aus den vorherigen Jahrgängen, ob ich Ton machen könne für eine Woche. Ich machte häufig Ton. Das war die einfachste Art und Weise, sich an einem Film zu beteiligen und mit dem Dreh direkt zu tun zu haben, und gleichzeitig machte man etwas, was sich in den Filmen widerspiegelte. Auf das Licht hatte keiner Lust, die schweren Lampen die ganze Zeit rauf und runter zu schleppen. Beleuchter zu sein war grauenhaft. Du musstest nur schleppen und das, was du dann von dir selber sahst in den Filmen, war nichts, null.

      THOMAS ARSLAN

      Mitarbeit bei den Filmen der anderen gab es. Aber weniger an den Konstruktionen, die hat schon jeder für sich gemacht. Es war eher Mitarbeit in dem Sinne, dass man geholfen hat, Ton oder Kamera gemacht hat. Wie ich das erinnere, haben wir uns da mehr oder weniger in Ruhe gelassen. Ich fand das auch ganz gut, dass man nicht über jede Einstellung des anderen diskutiert hat. Das wäre nicht besonders konstruktiv in solchen Prozessen. Die Präzisierung der Diskurse fand eher anhand von Filmen von Dritten statt, von Filmen, die wir gesehen haben. Untereinander waren wir gar nicht so streng und überkritisch, sondern eher zurückhaltend.

      LUDGER BLANKE

      Bei uns gab es eine Abneigung gegen die Kollaboration mit dem Fernsehen, und in ähnlicher Weise fehlte auch eine Bande, eine Verknüpfung mit Schauspielern. Als ich für meinen Zweitjahresfilm zur Schauspielervermittlung des Arbeitsamts ging, hatte ich überhaupt keine Idee davon, wie man castet, wie man Schauspielern, die man doch nicht besetzen will, eine Ablehnung mitteilt. Manfred Blank hat dann irgendwann ein Seminar gemacht mit Schauspielern, unter anderem mit Hanns Zischler. Aber das war nicht auf eine konkrete Arbeit gerichtet. Wir Filmstudenten und die Schauspielstudenten standen uns letztlich wie zwei fremde Gruppen gegenüber. Obwohl wir miteinander arbeiteten, löste sich dies Gegenüberstehen bis zum Schluss nicht auf. Vielleicht ist das auch ein Unterschied zu anderen Filmschulen. Das Schauspiel hat die dffb nicht wahrgenommen als wichtiges Feld, vielleicht aus dieser „politischen“ Geschichte heraus.

      THOMAS ARSLAN

      Es ging damals darum, das Reden in Filmen nicht als etwas Selbstverständliches zu nehmen, sondern sich das zu erarbeiten. In den Seminaren von Farocki und Bitomsky wurde viel darüber nachgedacht. Gleichzeitig traf sich das mit einer Berührungsangst, die man als junger Filmemacher besaß, der noch kaum etwas gemacht hatte. Das sind ja alles sehr komplizierte Gestaltungsmittel: Wie will mal Leute sprechen und spielen lassen? Wie geht man um mit Schauspielern und Nicht-Schauspielern. Das war so ein vorsichtiges Tasten, wohin man gehen könnte. Ohne sich in die bereitstehenden Klischees blind hineinzustürzen … Und dann stellt man schnell fest, dass das alles andere als selbstverständlich ist, wie Leute in Filmen reden, dass das hochartifizielle Entscheidungen voraussetzt. Sich da einen Weg zu bahnen, war einerseits ein Diskursthema und andererseits gab es einen Entwicklungsstand, wo man kaum Erfahrungen damit hatte, auch Angst davor, mit Schauspielern zu arbeiten. Das war ein unbekanntes Terrain.

      ANGELA SCHANELEC

      Man sah hauptsächlich die Studentenfilme, die in der Zeit gemacht wurden. Gefallen hat mir, dass ich bei diesen Filmen den Eindruck hatte: Die fangen von vorne an. Es gibt keine Vereinbarungen außer denen, auf die man sich jetzt einigt, weil man diesen Film macht. Und dadurch sind sie nicht absehbar, sondern man guckt und akzeptiert, was behauptet ist, weil es halt eben so ist, aber nicht, weil es sich an etwas orientiert, was man beschreiben kann, was bereits vorher so war, an irgendwelchen Regeln, an irgendwas, was in irgendwelchen Büchern steht.

      Bei 19 PORTRÄTS (1990) von Thomas Arslan wusste man nicht richtig, wie viele das werden. Man wusste nicht, ob jetzt jemand plötzlich in die Kamera spricht. Was mir gefallen hat an diesen Filmen war ihre Freiheit und Unbekümmertheit, ihre „Bewusstlosigkeit“. Ich hatte den Eindruck, die sind eher entstanden wie man ein Bild malt. Natürlich gab es ein Drehbuch, es gab auch ein Skript. Aber man kann trotzdem, egal wie man sich vorbereitet hat, in dem Moment, in dem es stattfindet, frei sein. Bei Thomas’ IM SOMMMER – DIE SICHTBARE WELT (1991/92) gefiel mir einfach, dass da so viel Zeit vergehen konnte. Und dass Leute oft nicht geredet haben und nur da saßen. Bei Ludgers DER TOD DES GOLDSUCHERS (1989) gefiel mir, dass ich nicht verstanden habe, was eigentlich los ist. Bei CHRONIK DES REGENS (1991/92) gefiel mir wahrscheinlich, dass der Film irgendwie so war wie Michel. Wenn ich den Film geguckt habe und dann auf Michel, konnte ich sehen: Ja, das stimmt. Da wird mir was erzählt, was eine Realität hat. Letztendlich waren das so einfache Sachen.

      Ende Teil 1.

      Dank

      Dank für Unterstützung bei der Recherche an Volkmar Ernst, Claudia Relota und Anke Vetter.

      Über den Autor

       

      Michael Baute,

      geboren 1968 in Bielefeld, seit 1995 in Berlin,

      ist Autor, Dozent, Medienarbeiter.

      • Michael Baute

        Fotografin: Mirjana Lozančić

        Michael Baute
      1 Abbildungen
      • 1 Zur Geschichte der „Berliner Schule“ und einer Skizzierung ihrer stilistischen Merkmale vgl. Michael Baute/Ekkehard Knörer/Volker Pantenburg/Stefan Pethke/Simon Rothöhler: „Berliner Schule“ – Eine Collage. In: kolik.film. Sonderheft 6. Oktober 2006. URL: http://www.kolikfilm.at/sonderheft.php?edition=20066&content=texte&text=1 (abgerufen am 05.06.2015); siehe auch: Rajendra Roy/Anke Leweke: The Berlin School. Films from the Berliner Schule. New York 2013.

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