von Ralph Eue
Beginnend mit dem Studienjahr 1978 bricht die Kultur von Punk und New Wave über die dffb herein.1 Im Herbst jenes Jahres beginnen Christoph Dreher und Heiner Mühlenbrock dort ihr Filmstudium. Christoph Dreher hat zuvor an der Berliner FU Soziologie und Philosophie studiert, spielte in verschiedenen Musikgruppen und wird während seiner Zeit an der dffb seine Band „Die Haut" gründen. Heiner Mühlenbrock kam aus dem Ruhrgebiet. Er hatte in verschiedenen sozialen Institutionen und als Fotograf gearbeitet. Ihr Erstjahresfilm, den sie gemeinsam drehen wollen (und werden) ist OKAY, OKAY – DER MODERNE TANZ (1979/80). Die Produktion entwickelt sich aus einem Seminar von Oimel Mai heraus.
Das Seminar dreht sich um „Miniaturen“. Es geht auch darum, den laufenden Betrieb der filmischen Ausbildung an der dffb in Frage zu stellen und gegebenenfalls neu auszurichten.
Das Seminar unterliegt einem schnellen Schrumpfungsprozess. Nach kurzer Zeit verbleiben lediglich vier Teilnehmer. Diese sind: Christoph Dreher, Wolfgang Höpfner, Heiner Mühlenbrock und Michael Proksch. Weitergearbeitet wird dennoch. Arbeitspapiere entstehen kontinuierlich. Für Dreher und Mühlenbrock kristallisiert sich in ihrer Arbeit schnell heraus, dass sie etwas produzieren wollen, was seinen Ursprung in der Musik hat, wo die Musik im wahrsten Wortsinn den Ton angibt.
Ungeschützte Behauptung
Bis dahin, also bis zum Studienjahr 1978, waren Filme, die an der dffb entstanden eher unmusikalisch. Musik galt als Privatangelegenheit. Gewiss gab es musikalische Vorlieben unter den Studierenden. Diese unterschieden sich, drückten sich vielleicht auch in den Prioritäten und im Umfang der Schallplattensammlung aus, wurden aber gewissermaßen an der (nicht vorhandenen) Garderobe der Institution abgegeben oder schlugen sich zumindest nicht in den Filmen nieder, die zu der Zeit entstanden. Der Einsatz von Musik gestaltete sich entschieden unentschieden – am ehesten noch nach Kriterien der Zweckmäßigkeit, wie etwa für den Transport oder zur Illustration politischer Absichten.
"Suchen ins Offene zu gelangen, auch auf die weitere Gefahr hin, dort NICHTS vorzufinden." (Helmut Färber)
In unerinnertem Dunkel liegt zur Zeit des genannten Miniaturen-Seminars der von Gerd Conradt initiierte erste Berliner Auftritt des elektroakustischen Live-Ensembles „Musica Elettronica Viva".2 Die von Conradt im Frühjahr 1967 in den Räumen der dffb organsierte Veranstaltung, bei der es unter anderem darum gehen sollte, mögliche Berührungspunkte zwischen Protagonisten einer avancierten elektronischen Musik und Filmstudenten zu eruieren, blieb mangels Interesse ein Solitär. Noch vergessener, zumindest völlig irrelevant im Curriculum der dffb, sind frühere Überlegungen zum Zusammenhang von Film und Musik3, wie auch die praktischen Experimente auf diesem Feld. Die Termini Video oder gar Musikclip sind noch kaum mehr als Schemen am Horizont der Zukunft – MTV geht erst im Sommer 1981 in den USA auf Sendung, in Deutschland erst Jahre später. Die elektronische Bildaufzeichnung ist zu diesem Zeitpunkt an der dffb eher die kuriose Ausnahme als der Normalfall.
Als 1993 das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt am Main die Ausstellung „Sound & Vision. Musikvideo und Filmkunst" ausrichtet, wird Helmut Färber, der während der 1970er und 1980er Jahre regelmäßig Dozent an der dffb war, und vielen, die in diesem Text genannt werden, als prägender Einfluss gilt, mit folgendem Brief im Katalog zitiert:
„ […] es scheint mir wichtig, daß die kritische Wahrnehmung gegenwärtiger Kulturerscheinungen sowohl sich der Gefahr bewußt ist, selbst zu erstarren und leer zu werden, als der Gefahr, dem Betrieb nur Gratisreklame hinzuliefern. Zwischen diesen Gefahren hindurch müßte man suchen, ins Offene zu gelangen, auch auf die weitere Gefahr hin, dort NICHTS vorzufinden. Ob es nicht von den Musik-Videos Zusammenhänge gibt zurück zu den Disney'schen Silly Symphonies, zu Fischinger u.a. zur Musikbegleitung der Stummfilmzeit – Griffith hat sich zeitweise Filme mit Musik/Ton, aber ohne gesprochene Sprache vorgestellt. Ob ein Zentralmoment gegenüber solchen früheren Formen bei den jetzigen die Beschleunigung ist?“4
Was Oimel Mai schließlich dem dffb-Direktor Heinz Rathsack vorlegt, um die Produktionsfreigabe für einige Übungsprojekte seines Seminars zu erhalten, ist eine Doppelseite mit Antragsprosa, flankiert von einigen Seiten Antragspoesie, zusammengestellt von Dreher und Mühlenbrock mit enigmatischen Fotokopien. Die beiden erinnern sich auch, dass sie bei den kritischen Fragen, die es im Vorfeld ihres Vorhabens gibt, den schillernden Begriff der Synästhesie ins Spiel bringen. Oder Anspielungen an die Lightshows amerikanischer West-Coast-Bands der sechziger Jahre. Und natürlich geht es im Herbst 1978 auch um „diese Geschichte von Punk, No Wave und Postmoderne".
Exkurs: Zeichen der Zeit aus Kofferradios in Neukölln
Ulrich Raulff war 1978 als Übersetzer und philosophischer Flaneur nach Berlin gekommen. Über die verschiedensten Pfade ließ er sich durch die Stadt treiben – ein Zeugnis dieses Treibens ist die Fotoserie von Michel Foucault bei der Ankündigung von René Allios Film MOI PIERRE RIVIÈRE AYANT ÉGORGÉ MA MÈRE, MA SOEUR ET MON FRÈRE (F 1976) im Kino Arsenal. Raulff war auch hellwacher Beobachter der Zeichen der Zeit. In seinem Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern" schreibt er: „Ich weiß nicht, wann mich das Gerücht erreichte. Es sollte einen neuen harten Stil in der englischen Musik geben. Drei Griffe auf der Gitarre und jede Menge Beat, ein Sound, frag nicht nach Sonnenschein. Furchtbar schlechte Musik und irgendwie furchtbar gut. Es wurde höchste Zeit, dass etwas passierte. Aus den kleinen Radios, die ich immer mit mir herumschleppte, seit ich, ach egal, säuselten immer noch „Chicago" „If You Leave Me Now", Led Zeppelin und Bee Gees, Falsettstimmen, Geigensätze, öliger Schmalz. Aber was zum Teufel war jetzt Punk? War das Dada in der Musik? Keine Ahnung. Ich saß in Neukölln und machte mir so meine Gedanken."5
Unterdessen am Theodor Heuß-Platz …
… machen sich auch Dreher und Mühlenbrock so ihre Gedanken über ihren entstehenden Film. Genaugenommen sind sie erstaunt, dass ihnen ihr Vorhaben so ohne weiteres „abgekauft" worden ist und zwar viel eher von der Administration als von Mitstudenten, die diesem Experiment mit offenem Ausgang wenn nicht ablehnend, so erklärtermaßen gleichgültig gegenüberstehen. Wahrscheinlich auch dieser wohl anstößig erscheinenden Idee wegen, verschiedene Formate mischen zu wollen - sowohl mit 16-mm als auch mit Super 8-Film zu drehen und das dann in ein und demselben Film zusammenzubringen. Super 8 ist einerseits etwas, das von künftigen professionellen Filmemachern mit Naserümpfen bedacht wird, andererseits ist es aber mit dem, worum es in OKAY, OKAY gehen soll, originär verbunden6 – und nochmal andererseits, wollen die beiden Filmemacher nicht so ohne weiteres und restlos ins nicht-professionelle Lager von Super 8 oder dem „expliziten Punkfilm"7 überlaufen, denn es ist eher die Idee des Unreinen, des Hybriden, der „Cross Culture"8, deren Signale die beiden erspüren und in einer Arbeit vergegenständlichen wollen. Die Rede vom Punk als „genialer Dilletantismus"9 ist zwar noch nicht formuliert liegt aber in der Luft.
Für Frank Behnke, der 1983 an die dffb kommt, ist der Zusammenhang von Film und Musik sowie die Rolle der dffb in einer Subgeschichte des Punk (et vice versa) von bleibendem und vitalem Interesse.10
Leuchtturm. Emblem. Monolith.
OKAY, OKAY stellt für Berlin das Gleiche dar wie Derek Jarmans JUBILEE (GB 1977)11 für London: Beide sind emblematische Filme, gewissermaßen Zeitkapseln, die nicht diskursiv, sondern als ästhetischer Flow den damaligen Zustand eines In-der-Gegenwart-Seins artikulierten. „Der Zusammenhang zwischen Punk und städtebaulicher Entwicklung war gleichermaßen eng wie umfassend."12
„Fragt man nach dem Inhalt von OKAY, OKAY – DER MODERNE TANZ", schrieb Justin Hoffmann in dem von Stefanie Schulte-Strathaus und Florian Wüst herausgegebenen Sammelband „Wer sagt denn, dass Beton nicht brennt, hast Du's probiert? Film im West-Berlin der 80er Jahre", „könnte man verkürzt urteilen, es handle sich um eine Visualisierung der damaligen Punk-Ideologie. Der Slogan der Punk-Bewegung, No Future, könnte in der Tat den Leitfaden des Films bilden. Für Punks war und ist das zeitgenössische gesellschaftliche Leben ein endloses Desaster. Etwas, das wie dieser Zustand dem Untergang geweiht ist, solle man nicht versuchen zu verbessern, sondern zu destabilisieren, damit sich der Prozess des Niedergangs beschleunigt. Erst wenn all das Ruinöse beseitigt ist, könne es einen Neuanfang geben. (…) Die Auseinandersetzung mit der Moderne ist kennzeichnend für zahlreiche Visualisierungs- bzw. Interpretationsversuche von Punk und New Wave. Im Unterschied zu den 1970er Jahren verschwand Natur und Landschaft aus dem Blickfeld der Filmemacher, Maler und Musiker. Im Zentrum stand die Stadt in ihren radikalsten Ausformungen. Nicht Parks, Gärten oder Flussufer wurden gezeigt, sondern Industrieanlagen, Abrisshäuser, Wohnsilos und Satellitenstädte. Wie wir vermittelt durch Stücke von 'Abwärts', 'Einstürzende Neubauten' oder 'Der Plan' wissen wurden Rolltreppen, Betonbauten und (zukunftsweisend) Computer zu Negativsymbolen der Zeit. (…) 'Modern' in all seinen Konnotationen wurde zum Schlagwort der Bewegung. Es konnte genauso gut positiv wie negativ bewertet werden. Und zum Teil war modern beides zugleich, ein unausweichlicher Zustand, dem man sich zu stellen hatte, egal ob man wollte oder nicht. Alles andere wäre damals als eskapistisch und sentimental angesehen worden. Diese Abneigung gegenüber dem Weichen, Romantischen, Rückwärtsgewandten begleitete die Beschäftigung mit der Moderne. (…) Der Begriff stand in jenen Tagen für Härte, Radikalität und Kälte, und man hatte deswegen selbst hart, radikal und cool zu sein, sonst ging man an ihr zugrunde. Hart und präzise wie Maschinen sollte auch die Kultur werden. Drum Machines und Sequenzer schufen Rhythmen und Sounds so prägnant und funktionell wie industrielle Geräte."13
OKAY, OKAY scheint einfach die Vorschau gewesen zu sein für etwas, was gut 20 Jahre später schon wieder Stoff für eloquente Rückblicke war14 – oder auch die „Albumvariante des Clipformats", wie Justin Hoffmann seinen eben zitierten Aufsatz im Untertitel nannte.
Ein bisschen Chronologie
Man muss sich noch einmal in Erinnerung rufen, dass Video zum Zeitpunkt der Entstehung von OKAY, OKAY kein wirkliches Thema an der dffb war. Gerd Conradt, der einer der 18 relegierten Studenten des ersten Jahrgangs der dffb war, baute nach verschiedenen unabhängigen Film- und Videoprojekten in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, an der FU und der Pädagogischen Hochschule in Berlin die dortigen Video-Werkstätten auf, und wurde 1979 als Video-Dozent an die dffb eingeladen, um dort Ähnliches zu realisieren. Zehn Jahre zuvor, 1969, hatte er, was damals als kauzige Spinnerei angesehen wurde, zusammen mit Holger Meins, Susanne Beyeler, Philip Werner Sauber und Katrin Seyboldt, einen Ausflug zur Industriemesse nach Hannover unternommen, weil es hieß, dass dort eine kleine japanische Firma ein Magnetaufzeichnungsgerät für Bilder ausstellen würde.
1979 gab es an der dffb zwar ein Videostudio mit einer 1-Zoll-Anlage, das in der Nachfolge von Jean Luc Godards NUMÉRO DEUX (F, 1975) zwar angeschafft wurde, weil es sich für eine Institution wie die dffb eben gehörte so etwas zu haben, indes ohne weitere Ideen, was damit eigentlich anzustellen sei.
Seins-Fiction
Gusztáv Hámos kommt 1979 aus Budapest nach West-Berlin. Er bewirbt sich an der dffb, wird auch zu den mündlichen Aufnahmeprüfungen zugelassen, hat aber noch keinen gültigen Pass, um daran teilzunehmen. Ihm wird angeboten, als Gasthörer das Studium aufzunehmen mit der Option ab dem folgenden Studienjahr (1980), regulär in die Schule aufgenommen zu werden. Bereits als Gasthörer ist Gusztáv Hámos aktiver als manch einer der festen Studierenden.
Hámos bewegt sich in einem Kreis gleichgesinnter ungarischer Künstler, die es ebenfalls nach Berlin verschlagen hat – darunter Mariann Kis, Mari Cantu und Katalin Pázmándy. Mariann Kis ist ebenfalls Gasthörerin an der dffb. Katalin Pázmándy studiert ab 1982 an der dffb, Mari Cantu ab 1983. Sie bilden einen kleinen, untereinander fest verbundenen, nach außen aber offenen ungarischen Kreis an der dffb. Von manchen Einheimischen werden sie als Eindringlinge betrachtet, auf Andere üben sie große Faszination aus. Einer dieser Anderen ist Christoph Dreher.
Ortsgespräch. Weltkonferenz. Gastauftritt: Gábor Bódy
Eine Schlüsselfigur in diesem Kreis ist Gábor Bódy (vgl. den Beitrag von F. Anders). Bódy, häufig als Wunderkind des ungarischen Films bezeichnet, dreht Mitte der 1970er Jahre an der Budapester Filmakademie AMERIKANISCHE ANSICHTSKARTEN (HU 1975). Der auf 35 mm und in Schwarz-Weiß gedrehte Diplomfilm, erzählt die Geschichte dreier ungarischer Landarbeiter im amerikanischen Bürgerkrieg. Der Film wurde so lange am Tricktisch bearbeitet, bis sie wie ein Fundstück aus der Frühzeit des Kinos erschien: wechselndes Korn, ungleiche Ränder, flackerndes Licht. Bereits mit dieser Arbeit verkündete Bódy deutlich sein Anliegen: Er will aus der Fülle der im Experimentalfilm entwickelten Gestaltungsmittel schöpfen, um mit ihnen eine linear gewordene Filmsprache mit neuem Leben zu füllen sowie eine Renaissance des Films aus dem Geist der Avantgarde einleiten.
Bódy spielt auch eine zentrale Rolle dabei, dass ab 1981 die Auseinandersetzung mit Video – jenseits von primär ökonomischen Erwägungen – an der dffb Einzug hält. Es ist die Zeit, in der noch das polemische Gegeneinander zwischen „Cineasten und Vidioten" an der Schule vorherrschend ist.15
Die Schnittstelle zwischen der dffb und Gábor Body ist Gusztáv Hámos. Die Idee eines internationalen Videomagazins wird ausgebrütet – INFERMENTAL soll es heißen. Beim Filmfestival in Mannheim im Oktober 1981 INFERMENTAL (1980-1991) vorgestellt.
Die erste Ausgabe von INFERMENTAL wird 1982 von Gábor Bódy und Astrid Heibach produziert. Mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und der technischen Hilfe der dffb. Ein halbes Dutzend Studierende und MitarbeiterInnen der dffb sind mit Beiträgen darin vertreten.
Im Gefolge von INFERMENTAL Nr. 1 (DE 1982) unterrichtet Gábor Bódy, bis zu seinem Tod 1985, mehrfach an der dffb. Im Rahmen eines seiner ersten Seminare entsteht auch Christoph Drehers erstes Video für seine Band „Die Haut": DER KARIBISCHE WESTERN.
Weitere Filme dieser Zeit verdanken sich dem informellen Austausch sowohl innerhalb wie außerhalb der dffb, darunter das 41-minütige Video COMMERCIAL – 40 ONE-MINUTE-ADVENTURES IN THE WORLD OF TV (1980/81) von Gusztáv Hámos und Christoph Dreher - benannt nach dem Album „The Commercial Album" der Band „The Residents". Dreher und Hámos verstehen ihr Projekt als medientheoretische Forschungsarbeit auf Video. Fernsehen als Bibliothek. Und als Rohmaterial einer prinzipiell offenen Reihe von Möglichkeiten. Programm als „Found Footage". Kreativ aufgenommen, (an)verwandelt, verstoffwechselt gewissermaßen.16
COMMERCIAL – 40 ONE-MINUTE-ADVENTURES IN THE WORLD OF TV entsteht an der dffb – ohne in einem direkten Zusammenhang mit einer Lehrveranstaltung zu stehen – mehr oder weniger als Guerilla-Produktion: eigeninitiativ, selbstverantwortlich und unkontrolliert. Es gibt ein „Mission Statement" zu diesem Projekt und ein Essay mit dem Titel „Scheiße zu Gold. Zu einer Ökologie des Audiovisuellen."
Sowohl DER KARIBISCHE WESTERN wie auch COMMERCIAL sind Pionierarbeiten des Musikclip-Genres kurz vor dessen kommerziellem Siegeszug.
Der Bauer im Parkdeck
1982 beginnt ein junger Mann aus Solingen sein Studium an der Deutschen Film und Fernsehakademie in Berlin, der als Sänger der Punkgruppe „S.Y.P.H.“ bereits eine feste Größe in der deutschen Punkszene ist: Peter Braatz. Seine Studienzeit bezeichnet er als die schönste Zeit in seinem Leben – nach dem Kindergarten. Als Musiker firmiert Braatz als Harry Rag – nach dem Helden eines Songs von den „Kinks". Als Filmemacher ist er manchmal Braatz manchmal Rag. Sein erster eigentlicher Film, den er an der dffb dreht, heißt LAMETTA (1982).
Der zweite dann DER BAUER IM PARKDECK (1983). Beide gehen von „S.Y.P.H.“-Stücken aus. Seine wichtigste Arbeit aber wird DER WUNDERBARE MANDARIN (1987).
Während eines Gesprächs via Skype erklärt Peter Braatz, der inzwischen in Slowenien lebt, seine Entwicklung als Filmemacher:
Sich in dieser Zeit für Film „oder" Video zu entscheiden, ist für Braatz keine Frage des Glaubensbekenntnisses, eher eine, die von Fall zu Fall und aus praktischen Erwägungen zu entscheiden ist.
Drei Monate lang quält sich Braatz damals, um für die Aufnahmeprüfung gewichtige Argumente zu Papier zu bringen, die seine Ansicht untermauern sollen, dass David Lynchs THE ELEPHANT MAN (GB 1980, Regie: David Lynch) der größte Film aller Zeiten ist. Die Bewunderung für Lynch hält während seines gesamten Studiums an, wobei er sich mit seiner Ansicht ziemlich allein bleibt an der Schule. Nur ein Einziger unter seinen Mitstudenten, teilt seinen Enthusiasmus: Frank Behnke. Während ihrer gesamten Zeit an der dffb versuchen Braatz und Behnke Kontakt mit Lynch aufzunehmen, um ihn um ein langes gefilmtes Interview zu bitten. Als sie es fast schon aufgegeben haben, erhalten sie überraschend Nachricht aus den USA ...
Video killed the Radiostar?
Im gleichen Jahr wie Peter Braatz, also 1982, nimmt auch Rolf S. Wolkenstein sein Studium an der dffb auf.
Auch er unternimmt seine ersten Schritte als Filmemacher im Grenzbereich zwischen Film und Musik. Auch er dreht Musikclips „avant la lettre". Heute erinnert er sich, dass es für dieses Feld, das er und seinesgleichen damals beackerten noch gar keine klare Bezeichnung gab.
Wie Peter Braatz misst auch Rolf S. Wolkenstein der Auseinandersetzung Film vs. Video keine große Bedeutung bei - auch wenn, alles in allem, sein Herz für Super 8 schlägt. Das war damals so und ist bis heute so geblieben. Aufgrund dieser Leidenschaft wurde er mit der DVD-Box BERLIN SUPER 80, die er 2005 herausgab, und darauf 18 kurze Super-8-Filme versammelte auch zum inoffiziellen Archivar jener Szene, die sich in den beginnenden 1980er Jahren hinter dem Slogan „Alle Macht der Super 8" versammelte. Im Booklet finden sich auch Wolkensteins ganz subjektive Erinnerungen an seine Eroberung der Insel West-Berlin.
Zu Anfang der 1980er Jahre in West-Berlin und im Umfeld von Punk, New Wave und No Wave war es schier unvermeidlich mit dem Gestus der „Genialen Dilletanten“ in Zusammenhang gebracht zu werden. In dem Terminus, wie unscharf auch immer und von wem auch immer erfunden, bündelt sich ein bestimmter Habitus.
Henri Langlois hat sich einmal fürs Kino mehr schlechte Schüler gewünscht, die quer zum Bemühen um die Anerkennung des Films als seriöser Kunst auch für das Überleben einer wilden, undomestizierbaren Essenz des Kinos Sorge tragen. In Rolf Wolkenstein hätte Langlois womöglich einen exemplarisch schlechten Schüler gesehen.
Nach seinem Studium an der dffb arbeitet Rolf S. Wolkenstein mit Christoph Dreher zusammen. Für das ZDF und Arte entwickeln sie die Musikreihe „Lost in Music". Ebenfalls mit dabei: Horst Markgraf als Kameramann. Auch er dffb Student (1986–199). Von 1992 bis 1998 produzieren und drehen die drei Filmemacher insgesamt 18 Folgen des Musikmagazins. 1994 werden sie dafür mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet.
Einige seiner frühen Super 8-Filme hat Rolf S. Wolkenstein selber auf YouTube zugänglich gemacht. Darunter das Musikvideo CRAEX APART (1983) und HÜPFEN 82 (1982).
Ortsgespräch. Weltkonferenz. Gastauftritt: Nick Cave
Eines Nachts im Herbst des Jahres 1988 wandert Frank Behnke während einer Pause beim Schnitt seines Abschlussfilms DAS WASSER DES NILS WIRD ZU BLUT WERDEN (1988/89) durch die leeren Gänge der dffb. Er nimmt an, als einsamer Arbeiter after hours allein zu sein, doch weit gefehlt.
Nick Cave gehört zur Mythologie der wilden Achtzigerjahre in West-Berlin. In vielerlei Zusammenhängen ist davon erzählt worden. Nick Cave selber macht noch in aktuellen Auftritten Andeutungen darüber, etwa wenn er über der Intro zum Song „Mercy Seat" erzählt, das er das Stück damals in der Wohnung seines Freundes Christoph geschrieben hat. Als Nick Cave 1982 aus Australien über London kommend eine mehrjährige Zwischenstation in Berlin macht – seine Band „The Birthday Party" befindet sich gerade in Auflösung – zieht er als Gast in der Fabriketage, in der auch Christoph Dreher und Heiner Mühlenbrock wohnen, ein.
Schnell ist klar, dass die drei unter dem gleichen Wind segeln, ähnliche Vorlieben und Abneigungen haben und im gesamten künstlerischen Denken, Fühlen und Wollen ähnlich gepolt sind. Es versteht sich auch, dass man sich, ohne es darauf angelegt zu haben, an den gleichen Orten der Stadt aufhält, in den gleichen Szenen verkehrt.
In dieser Zeit geht Nick Cave mehr oder weniger selbstverständlich an der dffb ein und aus: Er ist Gastmusiker bei manchen Stücken von „Die Haut". Christoph Dreher spielte kurzzeitig Bass in Nick Caves neuer Band „The Bad Seeds", umgekehrt hat Cave verschiedene Gastauftritte bei „Die Haut". Christoph Dreher produziert zusammen mit Ellen El Malky (von 1982 bis 1987 an der dffb) die ersten Videos für „The Bad Seeds" und Heiner Mühlenbrock begleitet in MUTINY! THE LAST BIRTHDAY PARTY (1983) die letzten Aufnahmen der ersten Band von Nick Cave in den Berliner Hansa Studios.
1989 schließlich dreht Uli M Schüppel17 mit THE ROAD TO GOD KNOWS WHERE (1989/90) seinen Abschlussfilm an der dffb, worin er die erste Nordamerika-Tournee von „Nick Cave and the Bad Seeds" begleitete. Der Film stellt wohl auch den Abschluss jener Etappe in der dffb-Geschichte dar, während der sich Filmemacher-und Musikermilieus massiv und enthusiastisch durchmischten.
Nihil oder alle Zeit der Welt
Bei all diesen Durchmischungen aber ging es den hier vorgestellten Filmemachern weniger darum, das Genre Musikfilm mit ungewohnten Facetten zu bereichern oder ihm neue Impulse zu geben.
Einleuchtend erklärt das Uli M Schueppel im Zusammenhang von NIHIL ODER ALLE ZEIT DER WELT (1987), eine Arbeit, die einerseits in jeder Musikfilmreihe gut auftauchen könnte und oft auch entsprechend eingesetzt wurde, die sich andererseits aber kaum explizit auf Musik bezieht. Allein im Habituellen gibt es klare Zusammenhänge und Überschneidungen.
Diese Verwandtschaft zwischen Filmemacher und Musiker ist es schließlich auch, die THE ROAD TO GOD KNOWS WHERE prägt.
Ein starker unterirdischer Strom
Diese Haltung geht zurück auf einen Filmemacher, der bereits in der Frühzeit der dffb mit seinen Lehrveranstaltungen Impulse für nachfolgende Filmemachergenerationen setzte: Klaus Wildenhahn.
Wildenhahn drehte mehrere Künstlerfilme, die inzwischen zu den Kleinodien der deutschen Fernsehgeschichte gehören, zu ihrer Entstehungszeit aber eher als Kuriosa lediglich geduldet wurden, weil sie so gar nicht die Vorstellung dessen, wie ein Künstlerporträt auszusehen habe, bedienen mochten.
Im Zusammenhang mit seinem Dokumentarfilm 498, THIRD AVENUE (DE 1968) über die Tanztruppe von Merce Cunningham, den Klaus Wildenhahn im Sommer 1967 drehte, unmittelbar im Anschluss übrigens an die Dokumentation IN DER FREMDE (DE 1967), die sich der Arbeit auf einer Baustelle im Oldenburgischen widmet, schrieb der Dokumentarist, dass er unbedingt auf großes Kino aus sei. In seinem Verständnis bedeute großes Kino aber unter Umständen Anderes als gemeinhin angenommen wird. Zum Beispiel in ausdauernden Beobachtungen, Menschen zu zeigen, die etwas herstellen. Eine Choreographie dort, einen Silo hier:
„Jeder, der etwas mit Film gearbeitet hat, weiß, wie leicht es ist, rasante Montagefolgen herzustellen, gute Übergänge zu finden und in der künstlichen Welt des Schneideraums ein Drama zurechtzufummeln, mit leichter Hand Sarkasmus, Sentimentalität und Überlegenheit einzustreuen, eine Geschlossenheit der Aussage herzustellen, die wenig oder gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben muss. Gewisse Schnittfolgen sind so in das Bewusstsein eingedrungen wie die Harmonien von Kirchenliedern. Man kann sie mitsingen, ohne das Lied zu kennen. Mit geschlossenen Augen. Man weiß, was kommt: Hunger, Stacheldraht, die Freien, die Unfreien, das ganze Schachbrett der Spielerfiguren. Das kann wunderschön sein und kann Unterhaltung und sogar Weisheit enthalten. Im Dokumentarfilm sollte diese Typisierung wegfallen. Jeder Versuch einer Rundung, die nicht natürlich sich einstellt, müsste wie die Pest vermieden werden. Man zeigt eine Sammlung von Splittern her, die man eingesammelt hat. Hatte man Glück und Ausdauer, gelingt es den Zuschauer in den Spannungsbogen des offenen Spiels mit einzubeziehen, des Spiels zwischen dem Filmemacher und dem Gefilmten. Und wenn der Zuschauer will, kann er Stellung beziehen nicht nur zum Gezeigten, sondern auch zum Hersteller und seinen offen zutage tretenden Vorlieben und Antipathien. Wenn der Film seinen Zweck erfüllt, entsteht ein Energiefeld zwischen diesen drei Polen: Gefilmter, Filmemacher und Zuschauer."18
Es ist frappierend, wie sehr die „Mission Statement" von Klaus Wildenhahn zu seinem Film über die Europa-Tournee von Jimmy Smith - SMITH, JAMES O. – ORGANIST, USA (DE 1966) - und jenes von Uli M Schüppel über die Amerika-Tournee von „Nick Cave and the Bad Seeds" sich wie Echos aufeinander beziehen lassen.
Zuerst Klaus Wildenhahn:
„1. Beobachtungen, wie Musik gemacht wird. Von James O. Smith/Orgel, Quentin Warren/Gitarre, Billy Hart/Schlagzeug. Und Bilder von einer Reise. Das Jimmy Smith-Trio auf Tournee durch Europa. (…) Zu sehen ist, wie die Musik in die Bilder eingeht. – 2. Zu sehen ist, wo Jimmy Smith herkommt. Aus USA, New York City. (…) Alltag in Manhattan, das Büro des Managers, Plattenaufnahmen. Beobachtungen, wie Musik gemacht wird. Aber die Bilder handeln nicht nur von Musik."19
Und schließlich Uli M Schüppel:
„Ein gewaltiges Pensum für den Star und seine Band, international bekannte Größen der Rockmusik: Mick Harvey („Crime an City Solution", „Soundtracks"), Blixa Bargeld („Einstürzende Neubauten"), Kid Congo Powers („Cramps", „Gun Club") und Thomas Wydler („Die Haut"). […] Die täglichen Reisen: der Bus als bewegliche Zelle von Hotel zu Hotel – verschwimmende Städte. Der immer gleiche Kreislauf: die Straße – das Hotel – Soundcheck – Backstage – das Konzert – das Hotel – die Straße [...] Und immer drängt sich die Musik in den Mittelpunkt, als das gemeinsame Zentrum, in dem sich die Gruppe trifft, sich schützt, die sie herausreißt aus dem immergleichen Pflichtprogramm ermüdender TV- und Pressetermine, Fotosessions und permanenter An- und Abreise. THE ROAD entfaltet das Bild des Rockmusikgeschäfts Ende der 80er Jahre mit all seinen Widersprüchen: der Mythos im Gegensatz zur geforderten Routine – die Wirklichkeit im Gegensatz zu herrschenden Klischeevorstellungen."20
Über den Autor
Ralph Eue: Publizist, Kurator, Übersetzer und Programmberater verschiedener Festivals und Filmmuseen. Dozent an der dffb. Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften sowie für Verlage und Hörfunkredaktionen. Außerdem Kurator der Projekte „Provokation der Wirklichkeit. 50 Jahre Oberhausener Manifest und die Folgen“ (2010-2012) und „Susan Sontag Revisited“ (2014-2015).