von Ralph Eue
„Sie hat sich auch nach Jahrzehnten nicht in ihrer Überzeugung beirren lassen, Menschen im Grunde für gut und Studenten für begabt zu halten. Diese romantische Einstellung dem Leben und der Kunst gegenüber wollen die Stifter ehren." – Aus der Satzung des Helene-Schwarz-Preises.
Helene Schwarz ist vom Beginn der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) mit dabei, zunächst als „Sachbearbeiterin für Studienangelegenheiten“, später als „Assistentin des Studienleiters“. Doch viele, die sie schätzen und ehren, ignorieren diese sperrigen Bezeichnungen. Für sie ist Helene Schwarz einfach nur die „bezauberndste Sekretärin der deutschen Filmwelt“.1
Einmal habe ich es gewagt, sie zu fragen, ob sie die Bezeichnung „Sekretärin“ nicht als respektlos empfinde. Ihre Antwort ist mir seitdem in Erinnerung geblieben: „Niemand, der etwas aktiv und mit Engagement betreibt, niemand, dessen Herzblut daran hängt, etwas zu erschaffen oder zu erhalten, empfindet die Notwendigkeit, sich selbst über den Begriff ‚Respekt‘ zu definieren. Nicht wenn er etwas taugt.“ Und so uneitel setzt sie sich in der langen Zeitspanne von 1966 bis 2007 mit ganzem Engagement für die dffb ein.
Kindheit und Backfischjahre
Helene Schwarz wird 1927 in ein armes Berliner Elternhaus hineingeboren. Der Vater verhält sich den Nationalsozialisten gegenüber zunächst indifferent, dann macht er sich unbeliebt bei den Braunhemden, weil er seine Kneipe nicht für Versammlungen hergeben will. Nach der Machtübergabe an Adolf Hitler wird er zu Zwangsarbeit im Steinbruch verurteilt. Als er freikommt, ist er krumm und abgeschuftet. Die Mutter mit den drei Kindern hatte zwischenzeitlich die Wohnung aufgeben müssen. Sie waren bei Helenes Großvater untergekommen. Als der Vater wieder da ist, leben noch beengter in der kleinen Kreuzberger Hinterhofwohnung. Küche, Stube, noch eine Stube. Insgesamt 59 Quadratmeter. Es gibt wenig zu essen, aber es geht herzlich zu. Im Sommer liegt Helene abends im Bett, vom Balkon dringt der Schein einer Öllampe, und sie hört, wie die Eltern und der Opa Skat spielen. „Ich dachte, wenn ich mal groß bin, will ich das auch machen.“ Skat erscheint ihr als der Inbegriff des Erwachsenseins.
Mit 14 Jahren muss sie Geld verdienen. Sie wird in eine Fabrik gesteckt, die Kriegsgerät herstellt, lernt Sekretärin. Peter Schwarz, der 16 Jahre älter ist als sie, begegnet sie 1943 als „Backfisch“. Liebe auf den ersten Blick. Sie heiraten bald. Man schreibt 1944. Um sie herum liegt Berlin in Trümmern. Ihr Mann besitzt zwei Pappkoffer. In einem ist etwas Kleidung, in dem anderen sind 30 Bücher. Einen, der so viel Bücher besaß, kannte sie bis dahin nicht. Die Ehe wird sehr glücklich. Die Tochter Claudia bekommen die Eheleute erst spät.
Eine Stellenanzeige und die Folgen
Nach dem Krieg folgt Helene ihrem Mann, der als Vertriebsleiter für verschiedene Verlage arbeitet, in mehrere westdeutsche Städte. Sie arbeitet hier und da. Meist stundenweise. Oder aus Gefälligkeit. Dem eigenen Selbstverständnis nach aber muss und will sie wieder richtig arbeiten. Sie macht eine Verwaltungsausbildung am Klinikum Westend in Berlin. Dort würde man sie anschließend mit Handkuss übernehmen und ihr auch ein anständiges Gehalt zahlen, doch eines Tages – es ist der 13. Februar 1966 – liest sie eine Stellenanzeige. Die in Gründung befindliche Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin sucht eine Sachbearbeiterin für Studienangelegenheiten. Nach den Vorstellungen ihres Mannes jedoch soll sie eigentlich gar nicht arbeiten. Diese Unstimmigkeit ist bei der Eröffnungsfeier der dffb am 17. September 1966, da arbeitet sie bereits seit drei Monaten dort, offenbar noch nicht ganz ausgestanden. In Rosa von Praunheims Film WER IST HELENE SCHWARZ? (DE 2005) erinnert sich Helke Sander, die zu den Studierenden des ersten Jahrgangs an der dffb gehörte, an ihre Begegnung mit Helene Schwarz an diesem Tag.
Ihre Bewerbung ist Helene Schwarz auch noch Jahrzehnte später als ein entscheidender Moment ihres Lebens präsent. Sie ist aufgeregt und fühlt sich lebendig in dem Sinne, dass sich Leben am intensivsten dann ereignet, wenn man sich eigentlich gerade ganz was anderes vorgenommen hat. In einem Beitrag für die Publikation „Momente des Lernens“ zum 30. Jubiläum der dffb schreibt sie: „Daß man mich brauchen konnte, bereicherte mein Leben und erfüllt mich bis heute mit großem Glück.“2 Und dieses Glück überdauert auch die 20 Jahre, die in der dffb noch folgen sollten.
Assistentin des Studienleiters
Ab dem 6. Mai 1969 soll sie Hans Helmut Prinzler (vgl. den Beitrag von F. Lang), dem vom Akademischen Rat bestellten ersten Studienleiter der dffb, als Assistentin zur Verfügung stehen. Dieser Moment sei hier kurz in Schuss-Gegenschuss-Manier erzählt.
Helene Schwarz über Hans Helmut Prinzler: „Es kann nur schönes Wetter gewesen sein an jenem Morgen am 6. Mai 1969, als ein schüchterner junger Mann in mein Büro und in mein Leben trat. Ein freundliches Schicksal hatte diesen ungewöhnlichen Menschen, diese bei einem Mann so seltene Mischung aus Verstand und Freundlichkeit an die Filmakademie geschickt. Was für ein Charakter! Von Beginn an bezauberte mich sein Intellekt. Die Liebe zum Kino und die Lust am Gespräch, die er in mir weckte, gaben mir im Lauf der Zeit oft Gelegenheit, manche Formulierung, manches gute Argument von ihm zu übernehmen. Er war voller Gegensätze: einerseits die für seine Jugend so eigenartig anmutende Gesetztheit, andererseits die manchmal durch nichts zu unterdrückende Albernheit, die sich oft sogar zum Lachzwang steigerte. Bei ihm war nichts Attitüde, bei ihm war alles echt. Ich glaube, er hat sich nie korrumpieren lassen."3
Und Hans Helmut Prinzler über Helene Schwarz: „Sie hatte ein Zimmer mit Vogelkäfig und Fotowand. Irgendwann verschwand der Käfig, die Fotowand nahm sie in ihre wechselnden Büros mit. Auf dem Schreibtisch standen immer auch persönliche Dinge, Spielereien, Schnickschnack. In ihrem Zimmer wurde viel geredet. Oft zitiert ist die Metapher: sie sei das Herz der Akademie. Weil sie von Anfang an dabei war und für viele zur wichtigsten Vertrauensperson wurde, gilt sie auch als das Gedächtnis der Akademie.
[...] Die Neugierde auf immer neue Studenten, Dozenten und Gäste darf dabei nicht erlahmen. Natürlich ist solche Freundlichkeit nicht gratis. Sie muß gedankt und erwidert werden. Wir waren damals zu zweit in der Studienleitung, die Zusammenarbeit war eng, vertrauensvoll und wurde von anderen Abteilungen nicht ohne Konkurrenzneid beobachtet. Daß ich auch in konfliktreichen Zeiten jeden Morgen gern ins Büro ging, hatte vor allem mit ihr zu tun."4
Talent zur Gastfreundschaft
Hans Helmut Prinzlers Charakterisierung von Helene Schwarz als Herz und Gedächtnis der dffb ist zu ergänzen um jene von Rosa von Praunheim, der sie zuerst als Muse des deutschen Films bezeichnete und sie dann noch zu seiner Ersatzmutter „kürte“.5 Hinzuzufügen ist in diesem Zusammenhang auch ihre grandiose Befähigung zur Vermittlung und Schlichtung und eine schier grenzenlose Gastfreundschaft. Zwar war die Position einer diplomatischen Vermittlerin in der dffb nicht offiziell vorgesehen, aber durch ihr Handeln verschafft sich Helene Schwarz Legitimität und Anerkennung als Schlichtungsinstanz auch in den schwierigsten Momenten der noch jungen Filmschule.
So wird im Sommer 1968 in Helene Schwarz’ Wohnung in einer informellen Nachtsitzung über die Gründung jenes Gremiums diskutiert, das seither legendär ist: der Akademische Rat. Zuerst nur ins Leben gerufen, um der gegenseitigen Blockade sämtlicher Aktivitäten an der Akademie entgegenzuwirken, etabliert sich der AR oder auch AkaRat schnell zu einem Dreh- und Angelpunkt. Wie fordernd und zermürbend sich die Sitzungen auch gestalteten mögen, der Akademische Rat bildet gleichsam die Agora der Institution. Er ist ein Stück gelebter Demokratie. In einem Gespräch mit Gert Conradt erinnert sich Helene Schwarz daran, wie die Idee ihren Anfang nahm:
„Das nächste Treffen, an das ich mich erinnere, war der Abend der Bundesfilmpreis-Verleihung an Johannes Schaaf für seinen Film TÄTOWIERUNG. Zu der Zeit ging an der Akademie nichts mehr! Keiner hat mit keinem gesprochen – ihr nicht mit den Dozenten, die Dozenten nicht mit der Direktion. Da habe ich alle Dozenten eingeladen, Michael Ballhaus, Ulrich Gregor … es war eine große Gruppe. Um halb elf klingelte es, der Studentenrat kam – da habt ihr miteinander gesprochen. Ulrich Gregor machte den Vorschlag, einen Akademischen Rat zu gründen, den es noch heute gibt. Er sagte: ‚Man muss ein Gremium haben, in dem Drittelparität herrscht!‘
Ich habe gefragt: ‚Wie wollen Sie das Dr. Rathsack beibringen?‘ Da hat Johannes Schaaf gesagt: ‚Das mache ich schon!‘ Am nächsten Morgen ist er zum Direktor gegangen und kam danach zu mir ins Büro. Ich fragte ihn: ‚Wie hast du es ihm erzählt?‘ ‚Ja also‘, sagte Johannes, ‚ich habe doch den Bundesfilmpreis für meinen Film TÄTOWIERUNG bekommen. Ich wollte eine kleine Feier machen, im Hotel ging das schlecht, da hat Helene mir ihre große Wohnung zur Verfügung gestellt. Dabei haben wir natürlich auch über die Akademie geredet und beschlossen, einen Akademischen Rat zu gründen.‘ Kaum hatte Johannes ausgesprochen, klingelte das Telefon und mein Direktor, Dr. Rathsack, war am Apparat: ‚Kommen Sie bitte mal runter.‘ Kaum war ich da, ging es los: ‚Was bilden Sie sich ein! Sie sind eine weisungsgebundene kleine Angestellte! Was fällt Ihnen ein, alle diese Leute einzuladen und mich nicht – und solche Sachen zu beschließen?‘ Der war böse! Eine Woche später war Dozentensitzung, normalerweise führte ich bei allen Sitzungen Protokoll. Diesmal kam Dr. Rathsack zu mir und sagte: ‚Frau Schwarz, diesmal brauchen Sie nicht daran teilzunehmen, wir danken Ihnen.‘ Ich war platt. Da bin ich ganz schnell mit der Taxe zum Flugplatz nach Tempelhof gefahren, ich wusste, dass Johannes Schaaf kam – dem habe ich die Geschichte erzählt. Vor der Sitzung hat Johannes mit Ulrich Gregor und Michael Ballhaus geredet. Ulrich Gregor hat dann auf der Sitzung gesagt: ‚Das ist ja eigenartig, Frau Schwarz ist heute nicht da?‘ Rathsack hat geantwortet: ‚Nein, die ist heute nicht da.‘ Nach einer Zeit hat Michael Ballhaus gesagt: ‚Jetzt muss ich aber nachfragen, wieso Helene Schwarz nicht da ist.‘ Erwin Leiser hat geantwortet: ‚Heute ist sie nicht da.‘ Da fing Johannes Schaaf an: ‚Was heißt das, sie ist nicht da? Ist sie krank?‘ ‚Nein, sie ist nicht krank‘, hat Leiser geantwortet. Johannes fragte nach: ‚Moment mal, wackelt der Stuhl von Frau Schwarz?‘ Da haben sich Rathsack und Leiser angesehen und Rathsack sollte wohl sagen: ‚Ja, der Stuhl wackelt, denn sie hat sich nicht richtig verhalten.‘ Aber er hat es sich anders überlegt und gesagt: ‚Nein, nein.‘ Daraufhin hat Johannes gesagt: ‚Also Sie sagen im Angesicht all dieser Dozenten, mit Frau Schwarz und Ihnen ist alles in Ordnung!‘ Rathsack hat mich danach lange geschnitten."6
Behende zwischen den Fronten
Helene Schwarz muss sich nicht groß verbiegen, um sich behende zwischen den Fronten der inneren und äußeren Auseinandersetzungen an der dffb zu bewegen. In ihrem Büro wird so manche Friedenszigarette geraucht und der ein oder andere Waffenstillstandskaffee getrunken, kurzfristige Allianzen und bleibende Freundschaften werden geknüpft, Zerwürfnisse geschlichtet, Projekte ausgeheckt – die Konstellationen wechseln, die Haupt- und Nebenrollen sind ebenfalls nicht fest vergeben. Die „Politfilmer“ trafen die „Kuchenfilmer“.7 Die Künstler stritten mit den Handwerkern. Die „Teleasten“ hatten mit den „Videasten“ und diese wiederum mit den „Cineasten“ nicht viel am Hut und tauschten sich, wenn schon nirgendwo sonst, wenigstens dort miteinander aus. Die Progressiven (politisch-technisch-ästhetisch) fühlten sich von den Traditionalisten (ästhetisch-technisch-politisch) verachtet (und vice versa). Und wenn die „Zimmerfilmer“ es mit ihrer Nabelschau übertrieben, schreckte Helene Schwarz sie gern auch mal mit überraschenden Nachrichten aus der Wirklichkeit auf. Immer aber legte sie Wert darauf, dass ihr Büro neutraler Boden blieb. Von hier aus intervenierte sie nicht nur bei Studentenfehden, sie versöhnte auch die Generationen. Den Kaffee, der im Lauf der Jahrzehnte bei ihr gekocht und getrunken wurde, hat sie übrigens immer selber bezahlt.
Geschichten aus dem Akademieleben
Anfang der 1980er Jahre hütet der Student und spätere Regisseur Wolfgang Becker in den Semesterferien ihre Wohnung und ihre Katze – und pflügt sich während mehrerer Wochen durch ihre beachtliche Videothek: Helene Schwarz ist zu dieser Zeit eine der wenigen, die einen Videorekorder ihr Eigen nennt.
In einer der vielen Aufnahmeprüfung der dffb, an denen Helene Schwarz von Anfang der 1970er Jahre bis 2007 mit nur wenigen Ausnahmen immer teilnahm, taucht 1985 taucht ein Bauernsohn aus Norddeutschland auf. Er versucht die Jury damit zu überzeugen, dass er den Mitgliedern der Kommission bei bestandener Prüfung einen Sack Kartoffeln verspricht. Helene Schwarz ist die erste, die darüber vor versammelter Mannschaft in schallendes Gelächter ausbricht. Der Name des Bewerbers: Detlev Buck.
Sie gesteht, dass sie beim schriftlichen Teil einer Aufnahmeprüfung einem Bewerber mal eine richtige Antwort gesteckt hat: „Ich hatte mir vorgestellt, dass es schön sei, diesen Menschen bei uns zu haben.“ Sie will heute nicht verhehlen, dass sie mit ihrem Instinkt in diesem Fall falsch lag. Der Bewerber war, nachdem er an der dffb aufgenommen worden war, eine ziemliche Niete. Es versteht sich von selbst, dass kein Name fällt, wenn Helene Schwarz darüber spricht.
Und Christian Petzold erzählt die nette Geschichte, dass er bei seiner ersten (nicht bestandenen) Aufnahmeprüfung eigentlich nur von Helene Schwarz wieder halbwegs aufgerichtet wurde, und es vielleicht nur ihr zuzuschreiben ist, dass er es überhaupt wagte, sich ein zweites Mal zu bewerben und dann zum Glück aufgenommen wurde.
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang noch ein anderer Abgelehnter: Rainer Werner Fassbinder. Bei seiner zweiten Bewerbung hatte er als Teil der eingereichten Unterlagen seinen ersten Film mitgeschickt, DAS KLEINE CHAOS (DE 1967). Nach der zweiten Ablehnung kümmert sich niemand mehr um den Film, weder an der dffb noch Fassbinder selbst. Die Kopie wird irgendwo „untergebuddelt“, gilt als unauffindbar. Als Fassbinder Mitte der 1970er Jahre um Rückgabe bittet, ist Helene Schwarz die Einzige, die sich dem nonchalanten Desinteresse der Institution widersetzt und sich dafür einsetzt, dass der Sache nachgegangen wird und Fassbinder seine Kopie zurückerhält.
Leseglück
„Ich hatte das Vergnügen, als ersten Roman der Weltliteratur die „Buddenbrooks“ zu lesen. Seither hat mich das Lesevergnügen an der Diktion und Eleganz der Sprache von Thomas Mann nicht verlassen und ich begriff, welche Wonnen zwischen zwei Buchdeckeln liegen können. Nach diesem geglückten Einstieg habe ich in den letzten 53 Jahren weit über 20.000 Bücher gelesen und kann heute Studenten und Absolventen für ihre geplanten Filme Literaturhinweise geben. Im Übrigen empfinde ich wie Saul Bellow. Er sagt: ‚Ich kaufe immer neue Bücher, zugegebenermaßen schneller, als ich sie lesen kann. Aber solange sie mich umgeben, stehen sie als Bürgen eines größeren und köstlicheren Lebens, als jenes, das ich führen kann.‘“8
Man sagt, ihre Liebe galt allen Studierenden der dffb, doch war diese Liebe nicht egalitär. „Bürgerlich im Habitus, bürgerlich auch in meinen Gedanken“, wie sie sich selber einmal beschrieb, löst es in ihr eine gewisse Zurückhaltung aus, wenn der oder die Gesprächspartner(in) nicht auch ein Interesse für Bücher erkennen lässt. Da verläuft sich die Zuneigung auch mal ins Ungefähre und Unverbindliche: Polemisch überspitzt kommentierte das Harun Farocki, indem er Helene Schwarz mit ihrer Kollegin Christel Scherner verglich, die von 1967 bis 2003 im Produktionsbereich der dffb arbeitete: „Bei Helene sitzen nur die, die auch Abitur haben. Zu Christel kann jeder kommen.“ Interessant, über das Anekdotische hinaus, ist an dieser Geschichte der Hinweis darauf, dass es bis heute nicht zwingend erforderlich ist, Abitur zu haben, um an der Deutschen Film- und Fernsehakademie studieren zu können.9
Praktikumsplätze
Helene Schwarz ist es auch zu danken, dass viele Studierende Praktikumsplätze ergattern können, die sie mit den eigenen Möglichkeiten höchstwahrscheinlich nie bekommen hätten. Wilma Pradetto etwa erinnert sich, wie sie im April 1992 als Praktikantin bei Martin Scorseses Produktion von THE AGE OF INNOCENCE (ZEIT DER UNSCHULD, US 1993) dabei sein durfte – undenkbar ohne die freundlich-bestimmte Intervention von Helene Schwarz: „Zwei Jahre früher. Waldfriedhof. Berlin Spandau. Heinz Rathsack ist tot. An seinem Grab treffen sich fast alle wieder. Sechs Jahre war er auch mein Direktor gewesen. Das Studium an der dffb – eine der großen Chancen in meinem bisherigen Leben. Abschied nehmen. OLD MAN RIVER (Peter Braatz, DE 1985). Heinz Rathsack hat oft gesagt: ‚Filmemachen kann man nicht lehren.‘ Ich habe viel gelernt an dieser Schule bei der Arbeit mit Filmschaffenden und Kommilitonen. Vier Menschen in dieser Zeit haben mich am stärksten beeinflußt: István Szabó, Eberhard Fechner, Michael Ballhaus und Helene Schwarz. Szabó, Fechner und Ballhaus waren wichtige Lehrer. Helene Schwarz war Förderin und Beschützerin – sie ist es für viele von uns gewesen, von Anfang an, seit 30 Jahren. Helene, Michael und ich fuhren gemeinsam vom Friedhof zurück in die laute Stadt. Helene wußte seit langem, wie sehr ich mir wünschte, Michael Ballhaus bei seiner Arbeit mit Martin Scorsese zuschauen zu dürfen. Nicht ich, sondern sie fragte, ob ich bei ihm hospitieren könnte. Wohl wissend, daß er diese Bitte, von ihr vorgetragen, nicht so leicht abschlagen würde."10 80 Tage, von Mitte April bis Ende Juni 1992, verbringt Wilma Pradetto am Set mit den selbstgewählten Meistern. Ihre prägendste Lehrzeit. Weit weg von der dffb. Dank Helene Schwarz.
Helene-Schwarz-Café
Präsent an der dffb ist Helene Schwarz auch heute noch. Wer mit dem Fahrstuhl in die neunte Etage des Filmhauses fährt und sich dort zwei Mal nach links wendet, kommt zwangsläufig ins Helene-Schwarz-Café. Touristen, die sich zielstrebig nach da oben verirren, um die Bellavista von der Terrasse hinunter in den Innenhof des Sony Centers zu genießen, fragen gerne mal nach, wer denn diese Helene Schwarz eigentlich sei. Es ist gar nicht so lange her, dass man manchmal antworten konnte, sie sitze „dahinten“. Denn lange über das Erreichen des Rentenalters hinaus hat sie noch an der dffb gearbeitet und dort mittags ihre Gäste empfangen, was bedeutete, dass sie sich mit ihnen zum Lunch traf, erzählte, zuhörte und gern auch Weißwein trank. Ganz in Ruhe. Die Zigarette am Schluss musste auch sein.
Manchmal musste es allerdings auch um Dienstliches gehen, um die Vermittlung von Praktikumsplätzen, um das Erwirken von Ausnahmeregelungen für lästige administrative Auflagen oder auch um die Akquise von Geld für den Förderverein der dffb, dem Helene Schwarz noch bis 2014 als Schatzmeisterin diente. Die Erfüllung dieser Aufgabe war für sie die schlichte Fortsetzung dessen, was sie sowieso schon immer als das „kleine Talent ihres Lebens“ sah: „Ich hatte immer Freude daran, Fäden zu spinnen, Brücken zu bauen und im günstigsten Fall Blütenstaub hier- und dorthin zu tragen.“11 Endgültig demissioniert hat Helene Schwarz erst nach ihrem 87. Geburtstag.
18, 20, 2, Null, 4, 7, 30, 3, 5, 6, 40 …
Wenn von Helene Schwarz die Rede ist, darf man nicht versäumen, von ihr auch als Skatspielerin zu sprechen. Es wurde schon erwähnt, dass ihr dieses Spiel in der Kindheit beim Einschlafen als Inbegriff des Erwachsenseins erschien, wenn sie im Sommer vom Balkon das 18, 20, 2 der Großen hörte. Selber erwachsen geworden, praktiziert sie es auch selbst und erlangt gar eine gewisse Meisterschaft. 1969 gründet sie eine Skatrunde. Es wird natürlich um Geld gespielt, immerhin um so viel, dass die Runde über viele Jahre hinweg „schönste Reisen“12 in die weite Welt unternehmen kann, die im Wesentlichen aus der Skatkasse bezahlt werden: Die Runde hat einen festen, Jahrzehnte lang gewachsenen Stamm. Ziemlich von Anfang an mit dabei: Hans Helmut Prinzler und Rosa von Praunheim. Gern gesehen als Gastspieler: Dozenten, manche Absolventen und Freunde, darunter Otto Sander, Ulrich Schamoni, Wolfgang Kohlhaase und Manfred Krug. Ausgeschlossen waren und sind Studenten. „Wir wollen sie vor Geldverlusten bewahren“, erklärt Helene Schwarz.
Dank
Dank in erster Linie an Helene Schwarz, dass sie ihre Gedanken und Erinnerungen seit jeher freigiebig geteilt hat. Ebenso danke ich Hans Helmut Prinzler, Dagmar Jacobsen und Gerd Conradt dafür, dass sie meine Fragen geduldig über sich ergehen ließen. Weiterer Dank gilt auch Helmut Herbst, dass er mir ganz uneigennützig einige seiner fantastischen Fotos zur Verwendung überlassen hat.
Die Fotowand
Über den Autor
Ralph Eue: Publizist, Kurator, Übersetzer und Programmberater verschiedener Festivals und Filmmuseen. Dozent an der dffb. Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften sowie für Verlage und Hörfunkredaktionen. Außerdem Kurator der Projekte „Provokation der Wirklichkeit. 50 Jahre Oberhausener Manifest und die Folgen“ (2010-2012) und „Susan Sontag Revisited“ (2014-2015).